Annäherung zwischen Mörder und Rächer: Atim (Ali Bacha Barkai, hinten) und Nassara (Youssouf Djaoro) in "Daratt".

Foto: Stadtkino

Regisseur und Autor Mahamat-Saleh Haroun.

Foto: Stadtkino

Wien - Den ersten Impuls setzt die Politik. Über Radio wird eine Generalamnestie bezüglich der im langjährigen Bürgerkrieg im Tschad begangenen Verbrechen verkündet, was zu unmittelbaren Ausschreitungen veranlasst. Mahamat-Saleh Harouns Film Daratt (Dry Season) konzentriert sich in der Folge jedoch auf ein sehr überschaubares Drama: Dem jungen Mann Atim (Ali Bacha Barkai) wird von seinem Großvater eine Pistole überreicht. Er soll den Mörder seines Vaters finden und die Tat nun eigenhändig rächen.

In wenigen knapp gehaltenen Szenen, die zwischen dokumentarischem Realismus und allegorischen Verdichtungen wechseln, hat der Film damit seine Grundsituation etabliert. Es dauert nicht lang, bis Atim in der Hauptstadt N'Djamena den Mann ausmacht, den er sucht: den Bäcker Nassara (Youssouf Djaoro), einen inzwischen wohlangesehenen Bürger und gläubigen Muslim. Doch anstatt ihn zu töten, nimmt Atim sein Angebot an, bei ihm zu arbeiten und zu erlernen, wie man Brot backt.

"Wenn einen etwas besonders schmerzt, dann fragt man sich doch immer, warum das so ist", antwortet Haroun im Standard-Interview auf die Frage nach Atims Motivationen. "Deshalb gibt es bei Atim den Wunsch, sich dem Mann zu nähern: Er will ihn und seine Tat besser verstehen. Die Falle dabei ist freilich, dass man durch die Annäherung auch die Person besser kennen lernt und dadurch das Risiko entsteht, durch den Charme dieses Menschen gefesselt zu werden."

Die Intensität von Daratt, der auf dem Filmfestival von Venedig mit dem Spezialpreise der Jury prämiert wurde und Teil von Peter Sellars New-Crowned-Hope-Reihe zum Wiener Mozartjahr ist, liegt denn auch in der Gegenüberstellung eines Täters und dem Nachkommen seines Opfers, in der geradezu paradoxe Identifikationen wirksam werden. Haroun inszeniert diese Konfrontation vor allem als Duell der Körper und Blicke. Kaum eine Einstellung fasst beide Protagonisten ins Bild.

"Mir ging es um die Grundlage jedes Mordes: Wenn man jemanden umbringt, beseitigt man seinen Körper", führt der Regisseur dazu aus: "Das heißt, Rache ist die Beseitigung eines Körpers, der zu einem Objekt wird. Aus diesem Gedanken heraus habe ich die Beziehung der beiden aufgebaut: In gewisser Weise drückt sich das wie ein Tanz, eine Choreografie aus. Im Körper manifestiert sich eine Animalität. Die Gewalt füllt den Raum und die Umgebung permanent aus. Jederzeit kann es zu einem Ausbruch kommen."

Ähnlich wie in Le fils, dem Film der Dardenne-Brüder, in dem ein Tischler den Mörder seines Sohnes als Lehrling aufnimmt, überträgt sich hier eine latent gewaltvolle Beziehung in praktische Verrichtungen. Zugleich verhandelt Haroun aber auch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn: Nicht nur entwickelt Nassara Sympathien für den jungen Mann, auf einer anderen Ebene stellt sich auch die Frage, inwiefern die Schuldverstrickungen der Vergangenheit durch Atim in die Gegenwart verlängert werden müssen.

Schon in Bye Bye Africa und Abouna - Der Vater war das Unverständnis zwischen den Generationen ein bestimmendes Thema für Haroun ("Der Vater ist wichtig: Ein Sohn kann sich für oder gegen seine Ordnung entscheiden."). In Daratt kommt nun das entscheidende Thema der Vergebung hinzu, das für den Regisseur von universeller Gültigkeit ist: "Ich möchte keine afrikanischen Filme machen, sondern eben nur einen Film. Wenn ein Krieg solche zeitliche Dimensionen hat wie das im Tschad, im Libanon oder auch in Somalia der Fall ist, dann führt das immer zu einer Art Straflosigkeit. Die Justiz greift nicht mehr ein, um Reparationen zu schaffen, sie ist unfähig, Urteile zu fällen. "

"Wie man zusammen leben kann, wenn man einander so viel Leid zugefügt hat, das war für mich die entscheidende Frage." - Das wesentliche Moment in einer solchen Konstellation ist für Haroun die Versöhnung des Einzelnen mit sich selbst: Daratt findet darauf in seinem großartigen Finale eine ambivalente Antwort - keine Versöhnung, aber die Möglichkeit dazu steht im Raum. (Dominik Kamalzadeh/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21. 3. 2007)