Wien - Rund 28.000 Kinder und Jugendliche aus Deutschland und Österreich flüchteten in den 1930er und 1940er Jahren vor den Nationalsozialisten in die USA. Trotz traumatischer Erfahrungen und schwieriger Umstände schlugen die jungen Vertriebenen beeindruckende Karrieren ein - doch die "dunkle Seite" einer verlorenen Kindheit und schmerzhafter Erinnerungen blieb zeitlebens bestehen. Der Wissenschaftssoziologe Gerhard Sonnert und der in Wien geborene Wissenschaftshistoriker und Physiker Gerald Holton von der Harvard University, haben in einer fünfjährigen Studie die Lebenswege der jüdischen Emigranten untersucht. Ihre Ergebnisse wurden nun in dem Buch "What Happened to the Children Who Fled Nazi Persecution" veröffentlicht.

Walter Kohn, Eric Kandel, Jack Steinberger, Henry Kissinger, Carl Djerassi - es gibt zahlreiche prominente Beispiele von als Kind Vertriebenen, die in den USA Karriere - von Nobelpreis über Wirtschaft bis zur hohen Politik - gemacht haben. Doch die zwei Harvard-Wissenschafter wollten nicht den Erfolg Einzelner erfassen, sondern erstellten eine "kollektive Biografie" der ehemaligen Flüchtlinge, die in Deutschland oder Österreich zwischen 1918 und 1935 geboren wurden und zwischen 1933 und 1945 in die USA kamen. Um den Gruppenerfolg der so genannten "Zweiten Welle" von Flüchtlingen erstmals zu quantifizieren, analysierten sie statistische Daten (US-Volkszählungen, "National Jewish Population Survey", "Who's Who"-Datenbank).

Befragungen

Zudem interviewten sie 100 Personen (die in der Studie anonymisiert wiedergegeben werden) und werteten 2.500 im Rahmen einer Befragung mittels Fragebogen erhaltenen Antworten aus - zu zwei Dritteln von Männern, zu einem Drittel von Frauen. Rund 1.800 davon waren ehemalige Flüchtlinge, die im Schnitt aus guten bis gehobenen Verhältnissen kamen und von denen knapp die Hälfte ohne Vater oder Mutter in die USA immigriert waren (Rest: US-Kontrollgruppe, Anm.).

Erfolge

Vergleiche des Einkommens, der Bildung und der Berufstätigkeit der als Kinder Vertriebenen mit US-Bürgern ergaben, dass die "Immigrantengruppe bis 1970 in den USA bereits sehr erfolgreich war", so die zwei Autoren, die als ersten Beleg dafür die Aufnahme in die Seiten des "Who's Who" anführen. So hätten es beispielsweise 2,5 Prozent der ehemaligen Flüchtlinge (mehr als 25 von Tausend) in die Personenenzyklopädie geschafft, hingegen nur knapp 0,2 Prozent aller gleichaltrigen US-Bürger. Für einen jüdischen Emigranten war es somit 15 Mal wahrscheinlicher, in den "Who's Who" eingetragen zu werden als für einen Amerikaner. Der Erfolg der gelisteten Emigranten führte dabei am ehesten - nämlich bei 28 Prozent - über die Natur- und Ingenieurswissenschaft sowie die Architektur.

Das jährliche Einkommen der Vertriebenen übertraf bei weitem jenes der US-Bevölkerung: Sie verdienten 85 Prozent mehr als US-Bürger, schreiben Sonnert und Holton. Der Einkommensvorteil der ehemaligen Flüchtlinge könne aber kaum auf den Transfer von familiärem Vermögen, das in Mitteleuropa angehäuft wurde, zurückgeführt werden.

>>> Karriereerfolge und Befinden.

Karriereerfolg

Auch die Berufstätigkeit zeigt den Karriereerfolg der "Zweiten Welle": 41 Prozent der männlichen Vertriebenen seien - im Gegensatz zu 14,5 Prozent der US-Männer - in der Top-Kategorie ("Professionals") der US-Volkszählung 1970 geführt worden (26 Prozent waren in der nächsten Kategorie "Managers" notiert - gegenüber 14 Prozent unter den amerikanischen Männern). Bei den weiblichen Vertriebenen gab es rund 26 Prozent "Professionals" gegenüber 14 Prozent der Amerikanerinnen.

Eines der bemerkenswertesten Ergebnisse sei, dass fast die Hälfte der Männer unter den ehemaligen Flüchtlingen - trotz der schwierigen Umstände zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in den USA - bis 1970 bereits vier oder mehr Jahre der Hochschulbildung absolviert hatte. Damit hätten sie bei weitem den Ausbildungsstand der gleichaltrigen Männer in Deutschland und Österreich übertroffen. Auch bei den US-Bürgern waren es nur 15 Prozent. Die männlichen ehemaligen Flüchtlinge hätten zwar eher den Zugang zur Bildung gehabt als die Frauen, doch auch diese schnitten im Vergleich mit ihrer weiblichen US-Kontrollgruppe sehr gut ab.

Naturwissenschaften und Sprache

Den Schwerpunkt bei den Naturwissenschaften führen die Studienautoren u.a. darauf zurück, dass die linguistischen Fähigkeiten in diesem Bereich - im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften und dem Rechtswesen - eine kleinere Rolle spielen. Allerdings lernten die Immigranten sehr schnell Englisch: 70 Prozent der Befragten gaben an, dass sie die Sprache altersgerecht in weniger als einem Jahr nach Ankunft in den USA gekonnt hätten.

"Die jüdische Herkunft selbst kann nicht eine ausreichende Erklärung für den Erfolg sein", schließen die Autoren aus einem Vergleich der Vertriebenen mit in den USA geborenen Juden. Ihre Hypothese lautet, dass der sozioökonomische Erfolg durch die nur unvollständige Assimilation der Emigranten ermöglicht worden ist. Die Wissenschafter unterstreichen dabei die Bedeutung des "kulturellen Kapitals". Auch wenn sich die Flüchtlinge linguistisch sehr schnell angepasst hätten, so hätten sie sich auf Grund ihrer europäischen Herkunft gewisse "Besonderheiten" in anderen Dimensionen und damit einen Vorteil erhalten.

Hoher psychologischer Preis

Nicht zu vergessen: Trotz des sozioökonomischen Erfolgs mussten viele ehemals Geflüchtete einen hohen psychologischen Preis zahlen. Ein Befragter gab etwa an, dass "das Gefühl von Mangel an Stabilität und Mangel an Gelassenheit ein Teil meiner Persönlichkeit wurde." Viele hätten sich immer als Außenseiter gefühlt. Ein Ergebnis ihrer Studie sei, so die Autoren, "dass der sozioökonomische Erfolg und der geleistete Gesellschaftsbeitrag sehr oft durch intensive Gefühle von Angst und Unsicherheit motiviert waren". Außergewöhnliche Leistungen seien quasi eine Notwendigkeit zum Überleben gewesen.

Mit dieser Studie wollten die Autoren einige mögliche Erklärungen "für den auf den ersten Blick unwahrscheinlichen Erfolg" der ehemaligen Flüchtlinge ergründen. Ein Teil der Ergebnisse darüber, was zum Erfolg der "Zweiten Welle" beigetragen hat, könne hoffentlich auch für heutige Flüchtlingsbewegungen bedeutend sein.

>>> Erleben und Zitate.

Eine kalte bis wenig gastfreundliche Haltung der Bürger, eine rigide Immigrationspolitik und die Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise 1929 mit verbreiteter Arbeitslosigkeit und Armut prägten in den 1930er und 1940er Jahren in den USA das soziale Klima. Die Immigration der jüdischen NS-Flüchtlinge, die häufig aus oberen und mittleren Einkommensschichten stammten, ging in vielen Fällen einher mit dem Zerfall des Familienvermögens und des sozialen Status. "In einem sehr kleinen Appartement zu leben. Ich meine, vom Leben im totalen Komfort zum Leben mehr oder weniger in Armut, vom Millionär zum Tellerwäscher sozusagen, es war eine Sache des Überlebens, und das ist alles, an was ich mich erinnere", so ein Befragter.

Viele Väter, die zuvor hohe akademische Grade und berufliche Positionen erreicht hatten, fanden mit ihrer Qualifikation in den USA keine Anerkennung. Die Kinder mussten sehr schnell Verantwortung übernehmen: "Ich war der einzige Brotverdiener der Familie. Und ich war sehr stolz darauf, dass ich der Einzige war, der das Geld verdiente." Ein anderer: "Ich denke, auf eine Art war ich Erziehungsberechtigter und sie waren die Kinder."

Trennung von den Eltern

Doch knapp die Hälfte der Befragten gab an, ohne Vater oder Mutter in die USA immigriert zu sein. Diese waren von vornherein auf sich gestellt und mussten zudem mit der Trennung von ihren Eltern umgehen. Eine Frau, die mit 17 Jahren mit ihren Eltern wieder vereint wurde: "Ich hatte kein Gefühl mehr für meine Mutter, wir waren so lange getrennt gewesen, und ich hatte quasi meine Kindheit ausgelebt."

Werte

Viele der Befragten verwiesen auf Werte wie "Pünktlichkeit, Respekt von Autoritäten, Verlässlichkeit, intensive harte Arbeit" als besonders prägend und unterstützend für Karriere in den USA. Ein Befragter: "... sich Ziele zu setzen und ordentlich und planend zu sein ... Ich denke, das ist Teil der Gene, Teil des Erbes, Teil des Genpools. ... das hat, glaube ich, einen Einfluss auf meinen Erfolg gehabt." Doch es gab auch kritische Stimmen, die sich gegen die autoritäre Kindererziehung und den Unterrichtsstil in ihrer frühen Kindheit in Mitteleuropa aussprachen.

Reaktionen auf die Flucht und die Immigration waren - im positiven Fall, aber doch relativ verbreitet - Entschlossenheit, Einfallsreichtum und Eigenständigkeit. Zerrissenheit und die Versetzung trieben viele Flüchtlinge mehr an und machten sie strebsamer. "Es ist fast wie in einem Computer, du hast Programme, die ständig im Hintergrund laufen."

"Ich glaube, meine Lebensursprünge trieben mich sehr an. Ich glaube nicht, dass meine Eltern jemals sagten, dass wir eine spezielle Verantwortung hatten, aber ich glaube, ich habe immer gefühlt, dass ich eine spezielle Verantwortung hätte, weil es uns möglich war zu entkommen, weil es uns möglich war, hierher zu emigrieren - mit all diesen Möglichkeiten."

Belastung

Der Preis des sozioökonomischen Erfolgs war hoch: Viele der ehemaligen Flüchtlinge berichteten von Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung. "Ich arbeite wahrscheinlich härter als andere Menschen. Ich bin ein Workaholic. Vielleicht ist das eine weitere Reflexion von Unsicherheit. Und ohne Zweifel war ich sehr darauf erpicht erfolgreich zu sein, wurde ich doch aus Deutschland rausgeschmissen." Viele fühlten sich zeitlebens in den USA "wie ein Außenseiter". "Der Schuldfaktor ist sehr verbreitet in mir. Warum wurde ich ausgespart?" Eine Möglichkeit, mit dem Trauma umzugehen, verbalisiert ein Anderer: "Erfolg ist die beste Rache".

89 Prozent der Befragten waren wenigstens ein Mal in ihre alte Heimat zurückgekehrt, über die Hälfte von ihnen häufiger als drei Mal. Viele zeigten sich über die jüngere Nachkriegsgeneration positiv überrascht, die ernsthaft interessiert gewesen wäre, dass es nicht wieder ein ähnliches Regime würde. Doch sie waren misstrauischer gegenüber der Menschen aus ihrer eigenen Generation und Älteren: "Was taten sie unter Hitler?" war eine ihrer zentralen Fragen. (APA)