Philosoph, Flaneur, Citoyen: Konrad Paul Liessmann, 1953 in Villach geboren, verkörpert den Typus des Intellektuellen, der in der Tradition der Aufklärung zwischen Universität Wien, wo er Professor am Institut für Philosophie ist, und Gesellschaft, die er als kritischer Bürger reflexiv begleitet, hin und her pendelt. Das neue Buch des Wissenschafters des Jahres 2006 ist die "Theorie der Unbildung" (Zsolnay).

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STANDARD: Humboldt schrieb die "Theorie der Bildung des Menschen", Adorno die "Theorie der Halbbildung" und Sie legen jetzt eine "Theorie der Unbildung" vor - es geht bergab.

Liessmann: Bergab geht es nur, wenn man daran festhalten wollte, dass das Ziel der im humanistischen Sinne umfassend gebildete Mensch ist. Bergab geht es nicht, wenn wir sagen, dieses Ziel wollen wir gar nicht mehr erreichen. Und meine These ist, genau das geschieht. Wir haben durch unsere Praxis der Organisation von Schulen, Universitäten und Forschungsstätten dokumentiert, dass es uns um Bildung im klassischen Sinn nicht mehr geht.

STANDARD: Was ist Unbildung?

Liessmann: Unbildung heißt nicht Dummheit, Unwissen oder Unfähigkeit. Ganz im Gegenteil, junge Menschen sind heute in vielem qualifizierter als früher. Aber wir haben nicht mehr diese Vorstellung, die noch Humboldt hatte, dass Bildung der "letzte Zweck des menschlichen Daseins" sei - Persönlichkeitsentfaltung durch Aneignung eines kulturell verbindlichen Wissens.

STANDARD: Welche Idee von Bildung vermuten Sie hinter den aktuellen Bildungsdiskursen?

Liessmann: Wir haben eine Qualifikationsidee und keine Bildungsidee mehr. Wichtig ist, möglichst effizient in kurzer Zeit mit geringsten Mitteln die für den Arbeitsmarkt beste Qualifikation zu erreichen. So plausibel das scheint - wir verlieren dadurch auch viel.

STANDARD: Auch der Begriff "Universität" als Institution hat einen eigentümlichen Niedergang erfahren. Als Marke allein taugt sie offenbar nicht mehr. Da müssen Elite-Unis her, andere wie die WU holen sich internationale Zertifikate - was wurde denn aus der guten, alten honorigen Universität?

Liessmann: Der Universitätsbegriff ist inflationiert worden. Die notwendige Demokratisierung der Universitäten - die Öffnung und großzügige Handhabung des Uni-Zugangs seit den 1970er-Jahren - hat nicht nur dazu geführt, dass die Unis als kleine, feine Institutionen in weiten Bereichen Massenveranstaltungen wurden, sondern die Universität hat aufgehört, ein Markenname zu sein. Heute nennt sich alles und jedes University.

STANDARD: Was sollte eine Universität im Jahr 2007 leisten?

Liessmann: Die Uni sollte sich ihrer ursprünglichen Aufgabe besinnen, die sie groß gemacht hat: Sie ist die einzige Institution, wo auf unterschiedlichen Niveaus - vom Grundstudium bis zum Spezialisten - in einem Verbund von Wissenschaften geforscht und gelehrt, Wissen hervorgebracht und vermittelt wird.

STANDARD: Das Thema universitäre Lehre scheint etwas ins Hintertreffen geraten zu sein, dabei studiert die Hälfte der Studierenden unter ungünstigen Betreuungsrelationen.

Liessmann: Es war ein großer Fehler, den man in der ersten Euphorie der Weltklasse-Uni-Fantasie gemacht hat, Qualität nur unter dem Forschungsaspekt zu sehen. Der Ruf einer Universität, ihre Aufgabe und Funktion besteht in hohem Maß nicht nur aus Forschung, sondern ganz intensiv in ihrer mit der Forschung verbundenen Lehrtätigkeit. Die Gefahr, dass man das intern spaltet, ist noch nicht abgewehrt.

STANDARD: Individuelle Nutzenmaximierung bringt vor allem die Konzentration auf Forschung. Sie bringt Reputation.

Liessmann: Ja, und das kritisiere ich. In allen Parametern, nach denen eine wissenschaftliche Karriere beurteilt wird, spielt die Lehre keine Rolle.

STANDARD: Was also tun?

Liessmann: Universitäre Lehre lebt zumindest im Kern davon, dass die Studierenden spüren, da spricht jemand über etwas, das er aus erster und nicht aus dritter Hand hat. Das Prinzip sollte die Humboldt'sche Idee der Einheit von Forschung und Lehre sein. Wenn Universität nur eine Fortsetzung einer Schule an einem anderen Ort ist, dann hat die Uni ihre Berechtigung und Faszinationskraft endgültig verspielt.

STANDARD: Noch schlimmer als Pisa ist nur noch Bologna, entnehme ich Ihrem Buch.

Liessmann: Pisa ist wie eine Krankheit, die alle drei Jahre kommt, aber wieder vergeht. Der Bologna-Prozess mit diesem Dreischrittsystem Bachelor-Master-PhD ist etwas, das die europäische Universitätslandschaft strukturell und nachhaltig verändert. Bachelor wird womöglich ein Studienabbrecherdiplom. Setzt sich das in Deutschland dafür diskutierte Modell der reinen Lehruniversität durch, kann es sein, dass ein Bachelor-Student im Laufe seines Studiums nie mit der Arbeit von Wissenschaftern konfrontiert wird. Da frage ich mich, warum nennt man das noch Universität? Die eigentliche Universität, mit allem was dazugehört, beginnt, wenn überhaupt, erst mit den Masterprogrammen.

STANDARD: Was bedeutet Bologna für die Universität an sich?

Liessmann: Die Bologna-Architektur erzeugt an den Universitäten und innerhalb der Studienrichtungen zwei Klassen - zwei Klassen von Studierenden, zwei Klassen von Lehrenden, und auf Dauer wird das die Einheit der Universität nachhaltig beschädigen.

STANDARD: Warum sollten junge Akademiker heute noch in die Uni als Arbeitsplatz wollen?

Liessmann: Wir tun ja im Moment alles, um junge Menschen nicht an die Uni zu holen, sondern abzuschrecken. Unser Dienstrecht besagt, dass auch der begabteste Assistent nach sechs Jahren gekündigt werden muss. Das, was Universität ausmacht, und was Menschen, die dort arbeiten wollen, mitbringen sollten, ist - ganz altertümlich formuliert - die Liebe zur Wissenschaft. Diese gilt es zu befördern und nicht zu strangulieren. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD-Printausgabe, 10./11. März 2007)