Geschmack hat Grenzen, Geschmacklosigkeit keine"; diese Einsicht - ich verdanke sie meinem Klagenfurter Kollegen Friedbert Aspetsberger - stellte sich mir unwillkürlich ein, als ich vom Streit im "Literarischen Quartett" zwischen Sigrid Löffler und Marcel Reich-Ranicki hörte.

Zugegeben, ich habe nur davon gehört und gelesen wie von der letzten Schlacht im Nibelungenlied, aber es ist für mich doch "wirklichste Wirklichkeit", und die ist, was den Stand der Gespräche über Literatur angeht, deprimierend.

Damit von dieser die Rede ist, muss etwas verletzt werden: der Anstand (wie in diesem Fall), ein Tabu oder die Political Correctness. Der Gegenstand des Streites ist aus dem Blick geraten, sein Wert tendiert gegen null. Es zählt der verbale Radikalismus.

Das war vor fünf Jahren so, als Günter Grass' "Ein Weites Feld" erschien, das ist heute so, wenn es um den Roman des Japaners Haruki Murakami "Gefährliche Liebe" geht. Sigrid Löffler erteilte - mit zureichendem Grund - diesem Buch im "Quartett" einen Platzverweis; Reich-Ranicki wurde persönlich: "Jedes hocherotische Buch wird von Ihnen abgelehnt. Sie können die Liebe im Buch nicht ertragen." Sigrid Löffler, so der Bericht, konterte, indem sie das Problem zur Altersfrage erklärte.

Skandal perfekt, Literatur egal

"Hocherotisch" avanciert so zu einem Kriterium für literarische Qualität, was ein weites Feld für die Betrachtung von Büchern erschließt. Vorschlag: Hocherotisch ist die Literatur vom "Werther" über "Madame Bovary" bis zu Haruki Murakami, "tieferotisch" alles von der "Mutzenbacher" abwärts.

Das also ist der Stoff, aus dem das Gespräch über Literatur ist; damit Kritiker beiderlei Geschlechts mitreden können, muss ihre physische und psychische Eignung eingefordert werden. Das Publikum hat seine Gaudi, und von Literatur braucht nicht weiter die Rede zu sein. Der Streit ist sich selbst genug, und schon seit zwölf Jahren läuft das "Literarische Quartett" unter der Devise, dass das Spektakel grundsätzlich der Literatur nütze.

Auf lange Sicht allerdings gerät der Literatur das, was ihr da widerfährt, zum Nachteil: Die Literaturkritik löscht den Gegenstand ihrer Betrachtung. Vergleiche hinken, aber einer sei doch riskiert: Man stelle sich vor, ein Studiogespräch unter der Leitung von Christian Nehiba mit Hans Krankl und Herbert Prohaska würde ein Spiel der Champions-League ersetzen.

Die Literaturkritik hat sich an die Stelle der Literatur gesetzt, Reich-Ranicki ist nicht nur ein Synonym für die Literaturkritik, sondern für die Literatur schlechthin geworden. Das hat seine Gründe. Reich-Ranicki richtet die Literatur so zu, dass sie für das Medium Fernsehen transportabel wird. Literarische Texte aber sind allemal Umwege, die bekanntlich die Ortskenntnis erhöhen. Diese Umwege werden jedoch nicht geduldet, es gibt nur noch Abschneider. Es darf kein Zögern im Urteil geben, kein Staunen, keine Unsicherheit. Von der Verstörung, die gute Literatur allemal auszulösen vermag, darf nichts bleiben, außer der rhetorischen Versicherung, man sei verstört.

Zu einer solchen Praxis hat sich Reich-Ranicki durch das Fernsehen bringen lassen, denn in einigen seiner früheren Schriften wird man mit Verwunderung feststellen, wie viel Differenziertes und Kenntnisreiches er zu Goethe oder Heine, zu Fontane oder Böll vorzubringen hat. Davon ist in den Tiraden des "Literarischen Quartetts" nur selten etwas zu spüren. Wenn der Gast in dieser Runde aus der Statistenrolle, zu der er a priori verurteilt ist, ausbrechen will, wird Reich-Ranicki sichtlich besorgt und ruft zur Räson.

Wer sich durch die in seiner Körperhaltung merkliche Unruhe nicht aus der Fassung bringen lässt, dem schneidet Reich-Ranicki als Parze den Redefaden ab. Das Publikum kommt auf seine Rechnung, wenn nicht nur ein Buch, sondern auch Kritikerkollegen erlegt werden konnten.

Kein Ende mit Schrecken

Ein solches Verhalten wirkt stilbildend; manche kopieren das Erfolgsrezept, manche suchen sich davon abzusetzen, und werden oft, um die Komplexität nicht zu reduzieren, höchst umständlich. Sie bleiben in der Minderzahl.

Ein Berliner Theaterkritiker soll vor dem Aufgehen des Vorhangs den Zuschauerraum mit dem lauten Ausruf "Schon faul!" verlassen haben. So habe ich im "Literarischen Quartett" Reich-Ranicki des Öfteren aus einem Buch herauslaufen gesehen, wurde er nur der Titelseite ansichtig.

Wenn der Name Handke fällt, hält er sich die Nase zu. Handke seinerseits hat repliziert: In dem Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht" ist von einer schönen Friedenszeit nach einem kurzen Bürgerkrieg in Deutschland die Rede, eine neue Ära, die dadurch anbricht, dass es den "Büchervernehmer" nicht mehr gibt. So billigt Handke - vermutlich unfreiwillig - Marcel Reich-Ranicki eine epochale Rolle im literarischen Leben zu, und das nicht zu Unrecht. Mit seinem Namen bleibt der Versuch verbunden, Literatur im Fernsehen attraktiv zu machen.

Die Erfolgsstory ist, so scheint es, nun zu Ende erzählt. Der Spiegel sprach herablassend von einer "Minderheiten-Sendung" für 570.000 Zuschauer. Sollte das respektable Experiment gescheitert sein, obwohl im "Literarischen Quartett" die Literatur dem Medium Fernsehen angepasst wurde und nicht umgekehrt das Medium der Literatur?

Literatur ist anders als Fußball, der im Fernsehen zu sich selbst zu kommen vermag. Mit dem Fernsehen in seiner gegenwärtigen Form ist Literatur nicht kompatibel; und das ist vielleicht ihre Chance.

Wendelin Schmidt-Dengler ist Professor für Germanistik an der Universität Wien und war zweimal als "dritter Mann" im "Quartett" zu Gast.