STANDARD: Haben Fälle von Vernachlässigung und Gewalt gegen Kinder zugenommen oder wird mehr angezeigt?

Graichen: Wir haben in unseren Ermittlungen festgestellt, dass sehr viele Menschen aus der engen Umgebung von Kindern, also Nachbarn, Kindergartenmitarbeiter, Lehrer, immer ein sehr großes Wissen über die Familien haben. Insbesondere natürlich die Nachbarn, weil die bemerken auch, wenn es aus der Wohnung riecht. Sie wussten bloß nie so richtig, wo sie das loswerden können. Weil bei der Polizei ruft man nicht so gerne an. "Man will ja keinen denunzieren", hört man da oft. Daraufhin haben wir vor zwei Jahren eine Plakataktion gestartet. Zeitgleich haben wir ein "Hinweistelefon" hier bei der Polizei geschaltet. Ich denke, wir haben schon erreicht, dass sehr viele Menschen sehr sensibel geworden sind, die uns anrufen und sagen, was sie wissen.

STANDARD: Was muss schief laufen, dass es zu massiver Vernachlässigung kommen kann?

Graichen: Es sind häufig junge Eltern, die es betrifft. Wer mit 22 Jahren allein erziehend ist, vier Kinder hat, sich auch noch einen Hund und sieben Katzen in der Wohnung hält und dann kein Geld oder keine Arbeit hat - das muss Überforderung geben. Mit 22 geht man auch gerne weg, und das kann man sich alles knicken. Wenn Kinder dann mit ihren Bedürfnissen "stören", geht das vielen schnell auf die Nerven. Da ist es einfach, Kinder wegzusperren. Wir hatten hier Fälle, wo Kinderzimmer mit extra Schlössern von außen versehen waren, damit die Kinder nur dann aus dem Zimmer konnten, wenn die Eltern es wollten.

STANDARD: Die Berliner Polizei ist sicher mit den Jugendämtern vernetzt, oder?

Graichen (lacht): Oder nicht. Wir haben zwölf Jugendämter, eines pro Bezirk. Die sind alle anders strukturiert. Es gab einige, die aufgrund unserer Ermittlungen ins Licht der Öffentlichkeit kamen, weil Hinweise einfach nicht bearbeitet wurden. Die Polizei ist verpflichtet, das zuständige Jugendamt zu informieren. Andersherum besteht keine Anzeigepflicht. Man versucht zuerst das im eigenen Kreis auf die Reihe zu kriegen. Manchmal geht's dann eben nicht mehr. Aber hier in Berlin ist gerade das "Netzwerk Kinderschutz" im Entstehen. Es ist auch unser Bestreben, dass alle miteinander reden.

STANDARD: Gibt es Fälle, wo Sie später erfahren haben, was aus den Kindern geworden ist?

Graichen: Mehr durch Zufall. Wenn es zum Prozess kommt, werden wir als Zeugen geladen, und man bekommt mit, was aus der Sache überhaupt wird. Nach vielen Jahren haben sich einmal die Adoptiveltern eines Mädchens gemeldet. Als es vier war, ist der kleine Bruder verhungert. Die leibliche Mutter wollte keinen Kontakt mehr zu dem Kind haben, als sie wieder aus dem Gefängnis war. Kinder, die so gar keine Kindheit haben, keine Bilder, die suchen schon nach ihren Wurzeln. Es kommt aber auch vor, dass Kinder, mit denen ich am Anfang meiner Zeit bei der Polizei zu tun hatte, als Erwachsene wieder als Vernachlässiger auftreten.

STANDARD: Sie führen auch die Erstbefragungen durch. Ist es für Kinder nicht trotz allem sehr schwer, plötzlich gegen die eigenen Eltern aussagen müssen?

Graichen: Wir müssen ihnen kindgerecht erklären, dass sie das Recht auf Zeugnisverweigerung haben. Aber auch, was passiert, wenn sie eine Aussage machen. Es gibt eine ganze Anzahl von Kindern, die sagen, ich möchte, das derjenige eine Strafe bekommt, weil "so geht man nicht mit Kindern um". Was Kinder möchten, ist eine Entschuldigung der Eltern. Das sagen sie immer wieder. Leider wollen das die Mütter und Väter aber nicht.

STANDARD: In Ihren Bereich fällt auch Gewalt gegen alte Menschen. Ist die im Zunehmen?

Graichen: Die ist genauso vorhanden. In weitaus geringerem Ausmaß als Gewalt gegen Kinder, aber über die Jahre habe ich schon einen Anstieg bemerkt. Die Altersgruppe wird statistisch leider nicht extra erfasst. Beschimpfungen, Anschreien, körperliche Gewalt - das bleibt noch viel mehr im Dunkeln als bei den Kindern, die dann eben zum Beispiel nicht mehr in die Schule kommen. (DER STANDARD print, 3./4.3.2007)