Tallinn/Moskau – In sowjetischen Witzen kamen Esten aufgrund ihrer angeblichen Langsamkeit generell zu kurz und zu spät. Der eine versäumt dabei ein Rendezvous, der andere den Zug, der dritte, aus demselben auszusteigen. Rechtzeitig aber aus der Sowjetunion ausgestiegen, strafte der nördlichste Baltenstaat dieses Stereotyp gehörig Lügen. In kurzer Zeit hat das Land Privatisierungen vorgenommen und einen radikal liberalen Weg eingeschlagen. 2004 erfolgte der Beitritt zu EU und Nato. Das Wirtschaftswachstum lag kontinuierlich bei über sieben, zuletzt über acht Prozent. Zugleich hat man sich als Hochburg der Internettechnologie etabliert.

Elektronische Stimmabgabe

Nun wollen die Esten auch bei der elektronischen Stimmabgabe die Ersten sein. Am Sonntag, 4. März, finden Parlamentswahlen statt. Bereits seit Montag bis morgen, Mittwoch, können die Bürger ihre Stimme im Internet abgeben. Bisher hat weltweit kein Staat eine derartiges E-Voting angeboten. Die Esten hatten schon die Kommunalwahlen 2005 im Web abgehalten, nun versucht man es auf nationaler Ebene. Gerade für Bürger, die im Ausland leben, soll dies den Urnengang vereinfachen. Technisch braucht der Wähler dafür eine Bürger-ID-Karte und ein Kartenlesegerät, das an den PC angeschlossen wird. Sicherheit vor Missbrauch soll eine zweifache Passwort-Eingabe gewährleisten.

Probedurchgang

In einem Probedurchgang wählten Internet-Fans vergangene Woche unter zehn Tieren den „König des Waldes“. Beim Rennen um die Macht im Staat am Sonntag werden den beiden führenden Koalitionsparteien die größten Chancen eingeräumt. Die linksgerichtete Zentrumspartei und die Mitte-rechts-Fraktion „Reformpartei“ hatten bei den letzten Wahlen 21 bzw. 19 der 101 Parlamentssitze erlangt. Offen ist, wer von beiden nun die Nase vorn haben wird. Der seit 2005 regierende Premier Andrus Ansip kommt von der Reformpartei. Dritte im Koalitionsbund ist die Volkspartei mit zwölf Sitzen.

Die Regierungskoalition hat zuletzt die liberale Wirtschaftspolitik fortgeführt, mit Pensionserhöhungen und besseren Leistungen für Eltern aber auch sozial gepunktet. Generell freilich blieb man bei der liberalen Steuerpolitik (Flat Tax von 24 Prozent). In der Frage größerer Rechte für die große russische Minderheit konnte oder wollte die Zentrumspartei keine Akzente setzen.

Die Wirtschaftsdaten (Durchschnittslohn knapp 600 Euro, Arbeitslosigkeit unter sieben Prozent) zeigen allesamt eine positive Entwicklung. Laut einer Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung ist unter allen neuen EU-Staaten in Estland die Angst um den Arbeitsplatz denn auch am geringsten.

Gering ist aber auch das Vertrauen in die Politik. Wegen Skandalen und Korruptionsvorwürfen hat bis jetzt keine einzige Regierung eine volle Legislaturperiode durchgehalten.(Eduard Steiner/DER STANDARD, Printausgabe, 27.02.2007)