Der Anzug ist eine der vielen Möglichkeiten die Machtposition zu zeigen

Foto: Standard/Regine Hendrich
Gesellschaftliche Stimmungen sind nie so exakt zu fassen wie Aktienkurse, doch wenn der Schein nicht trügt, dann haben Chefs an der Beliebtheitsbörse schon einmal höher notiert. Zu verdanken ist das problematischen Vertretern der Gattung, allen voran dem inzwischen verstorbenen Enron-Chef Kenneth Lay oder dem momentan in allen österreichischen Medien gegenwärtigen Helmut Elsner.

Phantom

Das Phantombild ist bekannt: Ein wirtschaftlicher Minderleister, dessen Verdienst in erster Linie darin besteht, massenhaft Vermögen vernichtet zu haben, der aber gleichwohl mit ehrlicher Entrüstung reagiert, wenn man ihm seine Zig-Millionen-Bonuszahlungen neidet oder auf dem Golfplatz vor ihm zu stehen kommt.

Die im Gefolge der Enron-Affäre gewaltig gestiegene Aversion gegen solche Figuren hat sich in drastisch-vulgären Buchtiteln wie 'Mein Chef ist ein Arschloch, Ihrer auch?' verdichtet. Ganz ähnlich tönt es aus den USA: Robert Sutton, ein Management-Professor aus Stanford, feiert derzeit Erfolge mit dem Buch 'The No Asshole Rule', in dem er zu einer "Zivilisierung des Arbeitsplatzes" und zur Maßregelung von Leuten aufruft, die die Stimmung mit asozialem Gebaren vergiften. Und das sind zwar keineswegs ausschließlich, aber eben doch häufig Führungsfiguren, meint Sutton.

Institution Chef

Die überschießende Begeisterung, mit der sich die Öffentlichkeit über gefallene Götter wie Lay, Elsner und Konsorten hermacht, verrät ein Ressentiment, das über den Anlassfall hinausgeht, eine Ambivalenz gegenüber der Institution des Chefs an sich. Sie erinnert an das Verhalten von Rudelwölfen, die plötzlich mit geifernden Lefzen und Nackenbiss über ihren CEO herfallen, wenn der wegen Alters, Verletzung oder aus sonst einem Grund an der Ausübung der Leitfunktion verhindert ist. Doch Ressentiment hin, Ressentiment her: Den Chef gibt es, und es wird ihn weiterhin geben, selbst wenn er in unterschiedlichen neumodischen Sprachverkleidungen (als CEO und so fort) auftritt.

Alpha-Tier

Die Gruppendynamiker sprechen vom Alpha-Tier; die Psychoanalytiker deuten die Angelegenheit so, dass sich der Chef seine sozialen Beziehungen zur Bewältigung seiner eigenen psychischen Dynamik (narzisstische Befriedigung, Abwehr von Trennungsdepression) zunutze macht. Die Systemtheoretiker erklären sich die Beständigkeit des Chef-Phänomens damit, dass es eine Reduktion sozialer Komplexität verbürgt, und sie haben einen weiteren, sehr produktiven Ansatz, der zum Verständnis des Chefs beiträgt: Wie jede andere gesellschaftliche Erscheinung (und jede andere biologische Überlebenseinheit) ist auch der Chef der Notwendigkeit unterworfen, sich ständig neu als Chef erschaffen zu müssen.

Selbsterschaffung

Chef ist man nicht ein für alle Mal, sondern man muss sich unablässig zu einem solchen machen (angesichts der mannigfaltigen Anstrengungen, die diese Aufgabe erfordert, ist es auch kein Wunder, dass sich an jede Chefetage mittlerweile ein schier unüberschaubares Heer an Dienstleistern angelagert hat, die mit Rat und Tat zur Seite stehen: Coaches, Mentoren, Berater und so fort).

Die Erfordernis der fortwährenden Selbsterschaffung gilt in spiegelverkehrter Hinsicht auch für den Untergebenen, ohne den es ja keinen Chef gäbe: Auch er muss sich ständig in Gedanken, Worten und Werken als Untergebener erweisen. Sobald der Untergebene seinem Chef Anweisungen erteilt oder der Chef Anweisungen von einem Untergebenen entgegennimmt, ist die Systemlogik durchbrochen. Zudem ist diese Systemlogik an einen spezifischen Kontext, nämlich an den des Arbeitsplatzes, gebunden: Untergeben sein mag man in der Firma, doch zu Hause dirigiert man dann Frau, Kind und Hund – ganz in Chefmanier – herum.

Auf die Tonart kommt es an

Wenn der Herr Karl im Keller mit sich selbst spricht, befleißigt er sich einer anderen Wortwahl und Tonart, als wenn er mit der Frau Chefin im Erdgeschoß kommuniziert. Die Kontextgebundenheit der Chef-Untergebenen-Beziehung bringt es auch mit sich, dass zufällige Begegnungen von Chefs und Untergebenen außerhalb dieses Zusammenhangs häufig von Momenten der Unsicherheit, ja der Peinlichkeit gekennzeichnet sind: "Ah, Sie sind auch hier" (Blick schweift ins Leere ab).

Zum Chef gezwungen

Wenn man die These, dass der Chef zur Autopoesis, zur ständig erneuten Selbsterschaffung als Chef gezwungen ist, verfolgt, dann stellt sich natürlich die Frage, mit welchen Mitteln er dies macht. Hier tut sich eine unerschöpfliche Palette an inneren und äußeren Verhaltensweisen auf: So ist es für das psychische Wohlbefinden eines Chefs meist günstig, wenn er die Überzeugung kultiviert, dass er etwas 'bewege', was mit dem ewigen Klagelied des Untergebenen korreliert, dass es ohne Chef genauso gut oder sogar besser ginge oder gegangen wäre (die Systemtheoretiker sind übrigens so unfreundlich, die Ansicht, dass man das Verhalten anderer Menschen kausal bestimmen könne, generell für eine Schimäre zu halten.)

Machtdemonstration

Die klassische Chefbotschaft "Ich stehe auf einer höheren Stufe als du" lässt sich mit hunderterlei Machtinsignien veranschaulichen: Der Literaturwissenschafter Paul Fussell hat gelegentlich darauf hingewiesen, dass der Anzug lange Zeit eine gefürchtete Waffe des amerikanischen Bosses war, um seinen Untergebenen die Fallhöhe ihrer sozialen Beziehung vor Augen zu führen. Der arme Arbeiter, der sich für die Verhandlungen in den ungewohnten Sonntagsstaat geworfen hatte, war von einem ständigen Startnachteil gepeinigt, wenn er sich unbehaglich in seinen Kleidern herumwinden musste.

Körpersprache

Es gibt ein reichhaltiges Arsenal an körpersprachlichen Signalen, mit denen sich der Chef als Chef zu erkennen gibt: Die zurückgelehnte Sitzposition im Sessel, die hochgezogenen Ellbogen, die hinter dem Kopf ineinander verschränkten Hände und so weiter und so fort – Sami Molcho könnte davon tagelang erzählen.

Verbale Kommunikation

Und es gibt, last but not least, verbale Strategien, um sich als Chef erkennen zu geben. Von der Existenz einer 'Chefsprache' auszugehen, erscheint gleichwohl verfehlt, jedenfalls existiert sie nicht in dem Sinne, wie es natürliche Sprachen wie Englisch, Türkisch oder Mandarin gibt. Man kann auch Chef sein, ohne von Benchmarking, Change Management, Incentives oder Wording zu reden – auch wenn, sehr zur Erbauung von Kulturkritikern und Kabarettisten, ein entsprechender Sprachgebrauch vor allem in größeren Unternehmen nicht schaden kann, um seine Management- und Macherqualitäten nach außen hin zu demonstrieren.

Allerdings lassen gerade Fälle – im doppelten Sinn des Wortes – wie die von Kenneth Lay oder Elsner die Vermutung aufkommen, dass eine flüssige Beherrschung der Managersprache und ein allein durch die Stellung sanktioniertes Chefgebaren nicht mehr ausreichen, um alle Kontrollinstanzen von den Aufsichtsräten bis hin zur öffentlichen Meinung völlig zu paralysieren und für flagrante Nullleistungen auch noch fürstlich belohnt zu werden. Bei manchen Ich-Aktien war eine Kurskorrektur längst überfällig. Und die Begeisterung, mit der die amerikanischen Leser auf Robert Suttons No Asshole Rule reagiert haben, zeigt, dass dies von einer breiten Öffentlichkeit so gesehen wird. (Christoph Winder, Der Standard, Printausgabe, 24.2.2007)