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Eine alte Romni und ihr Enkelsohn, die 1999 aus dem Kosovo flüchten konnten: Die allerwenigsten ihrer Volksgruppe sind bis heute in das Land zurückgekehrt.

Foto: Reuters
Ein unabhängiger Kosovo, wie ihn der Ahtisaari-Vorschlag vorsieht, droht Kosovo-Albaner und Serben gegenüber zahreichen ethnischen Minderheiten zu privilegieren. Letztere warten zudem weiterhin darauf, dass auch Verbrechen von albanischer Seite aufgearbeitet werden.

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Die Kosovo-Albaner, die Vereinigten Staaten und die EU wollten es so: Der Kosovo soll unabhängig werden. Das Ziel ist jetzt zum Greifen nahe. Unter den Kosovo-Albanern wird man kaum einen Menschen finden, der nicht die Unabhängigkeit wünschte. Einige wollen sie mit Gewalt und sofort. Allerdings gibt es auch viele, die Angst vor der Unabhängigkeit haben, denn sie trauen es ihren eigenen Leuten (noch) nicht zu, dass sie einen unabhängigen Staat führen können. Mangelnde Erfahrung, Korruption, keine Aussicht auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und ein zu großer Einfluss von Strukturen, die woanders als organisierte Kriminalität bezeichnet werden würden, sind die Hauptsorgen.

Noch größere Sorgen haben die Nicht-Albaner im Kosovo. Und das sind nicht nur die Serben, sondern auch die Roma, Ashkali, Ägypter, Türken, Bosniaken, Gorani und Kroaten. Sie befürchten, dass es für sie keinen Platz im Kosovo geben wird und sie fragen sich, wohin sie sollen, wenn es für sie keinen Platz im Kosovo gibt. Der Ahtisaari-Vorschlag hat diese Sorgen nur verstärkt, denn die Bedürfnisse und Forderungen all dieser ethnischen Gruppen wurden in dem Vorschlag nicht berücksichtigt. Wie auch - sie wurden ja auch nicht gefragt.

Verquerer Denkansatz

Mit einem verqueren Denkansatz, der bestimmten ethnischen Gruppen bestimmte Rechte zuschreibt, genau diese Rechte aber anderen ethnischen Gruppen zugleich vorenthält und den Ansatz, welcher auf einer Zivil- oder Bürgergesellschaft aufbaut, ignoriert, wird im Europa des 21. Jahrhunderts ein ethnisch definiertes, hierarchisches Kastensystems eingeführt. Mit diesem Anachronismus versucht man nun einen modernen, demokratischen und multi-ethnischen Staat aufzubauen. Ob das wohl gut geht?

Dass die ethnische Minderheiten im Ahtisaari- Vorschlag nicht berücksichtigt worden sind, ist nur die zynische Höhepunkt der Politik der internationalen Staatengemeinschaft und der letzten Jahre. Es spiegelt auch das Verhältnis der Kosovo-Albaner und der serbischen Regierung zu diesen ethnischen Gruppen wider. Serbien reklamiert zwar, dass Kosovo Teil Serbiens sei, in den Verhandlungen ging es Serbien aber nur um die Rechte und Privilegien der Serben im Kosovo. Eine moderne, demokratisch gesinnte Regierung hätte auch die Verantwortung für ihre anderen "ehemaligen" Staatsbürger übernommen und auch die Bedürfnisse und Forderungen der Roma, Ashkali, Ägypter, Türken, Bosniaken, Gorani und Kroaten vertreten.

Alle zukünftigen Staatsbürger

Und eine kosovo-albanische Regierung, die tatsächlich einen "demokratischen, multi-ethnischen" Kosovo schaffen möchte, hätte in den Verhandlungen auch die Bedürfnisse und Forderungen all ihrer "zukünftigen" Staatsbürger - der Roma, Ashkali, Ägypter, Türken, Bosniaken, Gorani und Kroaten und der Serben - vertreten. Und sie hätte nicht nur ein Gremium mit Angehörigen dieser Volksgruppen eingerichtet, dessen einzige Aufgabe darin besteht, die Vorschläge der Kosovo-Albaner abzunicken.

Internationale Vermittler, die tatsächlich an einem "multi-ethnischen" Kosovo, in dem alle ethnischen Gruppen gleichberechtigt leben können, interessiert gewesen wären, hätten gerade die Bedürfnisse und Forderungen dieser Gruppen aufnehmen müssen, da es sonst niemand tat - vor allem, weil die Vermittler von den Vereinten Nationen dazu auch den Auftrag bekommen hatten.

Der eigenen Vergangenheit stellen

Im Ausgleich für die Unabhängigkeit sollte es den Albanern und der internationalen Staatengemeinschaft ernst damit sein, eine moderne Gesellschaft im Kosovo aufzubauen: eine moderne Gesellschaft, in der die archaischen Gesellschaftsstrukturen unter den Kosovo-Albanern aufgebrochen, der Einfluss von informellen Strukturen zurückgedrängt wird und in der man sich endlich der eigenen Vergangenheit stellt: Nicht nur die Verbrechen, die an Albanern begangen wurden, sondern auch die Verbrechen, die Albaner an Angehörigen anderer ethnischer Gruppen seit 1999 begangen haben, müssen endlich aufgearbeitet werden. Man sollte endlich mit der Überführung und Verhaftung der Täter und Schreibtischtäter auf albanischer Seite beginnen. Dies ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen eines demokratischen, "multi-ethnischen" Kosovos.

Es gab und gibt so gut wie keine Gerichtsverfahren gegen die Täter dieser Verbrechen auf albanischer Seite. Zehntausende Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben. Hunderte ermordet. Hunderte verschwanden spurlos. Geschäfte, Wohnungen, Landbesitz wurden illegal okkupiert.

Mörder laufen frei herum

Mörder laufen frei herum, Menschen leben in Häusern, die andere Familien für sich gebaut hatten und aus denen sie von denen mit Gewalt vertrieben wurden, die jetzt darin leben. Andere verdienen ihr Geld durch Geschäfte, die sich jemand aufgebaut hat, der vielleicht jetzt in Serbien, Montenegro, Mazedonien oder Deutschland in einem Flüchtlingslager ohne Einkommen lebt; landwirtschaftliche Anbauflächen werden jetzt vom albanischen Nachbarn bebaut, während der Besitzer dieser Anbauflächen entweder von Lebensmittelhilfe im Nachbardorf oder irgendwo in Serbien lebt.

In sieben Jahren UN-Verwaltung blieb Gerechtigkeit für die meisten Minderheiten im Kosovo ein Traum. Die meisten Minderheitenangehörigen haben auch das Verhalten der internationalen Streitkräfte im Sommer 1999 nicht vergessen, als die schlimmsten Verbrechen begangen worden sind. Wie z. B. das Roma-Viertel im Mitrovica, einst bewohnt von ca. 8000 Menschen, das von einem albanischen Mob unter den Augen und den Kameras der internationalen militärischen Schutztruppe für den Kosovo niedergebrannt wurde. Zahlreiche Menschen wurden dabei getötet.

Roma leben in menschenunwürdigen Lagern

Es ist auch ein Verbrechen, dass die UN-Verwaltung Roma, die 1999 aus ihren Häusern vertrieben worden sind, in menschenunwürdigen Lagern im Kosovo untergebracht hat, deren Boden extrem mit Blei verseucht war. Dies war den Behörden der Vereinten Nationen über Jahre hinweg bekannt. Doch erst nach sieben Jahren bequemte man sich dazu, sie in andere Lager zu übersenden; aber nicht in ihre ehemaligen Häuser, wie man vielleicht hätte annehmen können. Denn das Land gehört jetzt den Kosovo-Albanern und diese müssen zustimmen, wenn jemand in seinen Heimatort zurückkehren will.

Vor dem Krieg lebten bis zu 150.000 Roma, Ashkali und Ägypter im Kosovo. Jetzt sind es noch 35.000. In Prishtina alleine lebten vor dem Krieg geschätzt ca. 15.000, jetzt ca. 300. Ihre Häuser, ganze Siedlungen sind inzwischen von Albanern bewohnt. Illegal. Und ohne Mietzahlungen, aber mit Duldung der internationalen Staatengemeinschaft und der kosovo-albanischen Politiker.

Minderheiten verlassen den Kosovo

Bis zu 100.000 Serben und um die 100.000 Roma, Ashkali, Ägypter, Türken, Bosniaken, Gorani und Kroaten leben noch im Kosovo. Es sollte zu denken geben, dass während sieben Jahren UN-Verwaltung mehr Minderheitenangehörige den Kosovo verlassen haben, als Vertriebene in den Kosovo zurückgekehrt sind. Und warum und wie soll das in einem unabhängigen Kosovo besser werden?

Bis heute noch trauen sich nur wenige Minderheitenangehörige an der Universität in Prishtina zu studieren. Die Albaner haben ihre Universität in Prishtina, die Serben in Mitrovica. Aber wo sollen die anderen studieren?

Kein Thema

Dies alles war nicht Thema bei den Statusverhandlungen und findet sich auch nicht im Ahtisaari-Vorschlag berücksichtigt. Denn dem verqueren Verständnis des Verhandlungsteams nach ist der Kosovo erstmal für die Albaner und dann für die Serben da (denn ihnen gehört ja jetzt das Land). Dass das jetzt besser werden soll, nachdem mit dem Vorschlag von Ahtisaari kein Hindernis mehr auf dem Weg zur Unabhängigkeit existiert und der Kosovo ab Sommer 2007 unabhängig von Kosovo-Albanern regiert werden soll, kann nur ein Mensch glauben, der nicht daran interessiert ist, dass es anders wird. (Stephan Müller, DER STANDARD, Printausgabe 22.2.2007)