Das Duell der Macht in Gestalt der personifizierten Gewalt, mit der freien Begabung und künstlerischen Inspiration, die aus unergründlichen, der Macht unzugänglichen Quellen gespeist wird, ist ein bis heute aktuelles Thema geblieben. Es sei hier nur an das Gerichtsverfahren gegen den späteren Literaturnobelpreisträger Josif Brodsky erinnert: Nachdem der sowjetische Schriftstellerverband bescheinigt hatte, Brodsky sei kein Dichter, stellte ihm der Richter die Frage: "Was hat Sie dazu gebracht zu glauben, dass Sie Dichter sind?" Die in ihrer Einfachheit bemerkenswerte Antwort Brodskys lautete: "Ich glaube, das hat Gott entschieden." (. . .) Und nun hören wir heute von der Krise der Kunst, ja sogar der Tod der Kunst wird herbeigeredet - und das in einer Welt, in der das Thema Macht in seiner klassischen Spielart scheinbar in den Hintergrund gedrängt wurde. Es sind sogar die Künstler selbst, die diesen Tod und diese Krise beschwören, und zwar im Rahmen einer liberalen Gesellschaft, die als Vorbild auch für jene Regionen dient, in denen die alten Beziehungen zwischen Macht und Mensch noch durchaus ihre Gültigkeit haben! (. . .)

Die Selbstverwirklichung, auch die künstlerische, hat dabei noch nie so wenig Einschränkung und so viel Unterstützung erfahren - und dennoch, dennoch spricht die Kunst in dieser Gesellschaft von ihrem eigenen Tod!

Es wäre sicher allzu einfach, daraus zu schließen (wie dies viele tun), dass das Fehlen von Verfolgungen, das Fehlen einer Macht, die dem freien Schöpfertum feindlich gesinnt ist, das Fehlen von Polarität und Spannungen die Tendenz zum künstlerischen Wärmetod überhaupt erst erzeugt. Doch glaube ich nicht, dass die Macht tatsächlich von der Bühne abgetreten ist! Sie hat vielmehr eine neue, noch unerforschte Gestalt angenommen: Und in dieser Gestalt ist sie sogar imstande, dorthin zu gelangen, wohin der klassische und der ideologische Despotismus nicht hingereicht haben. Ich meine jene unpersönliche Macht, die scheinbar keine Träger hat, die sich auch keiner offenen Gewalt bedient, mit der Existenz einer wirklich inspirierten Kunst aber noch weitaus inkompatibler ist. Wie soll man diese Macht eigentlich definieren?

Prinzip Sicherheit

Als Macht des Konsums, wie sie seit langem bezeichnet wird? Aber diese neue Macht hat über den Konsum hinaus noch einen anderen, vielleicht wesentlicheren Aspekt: allgemeine Isolation, die Isolation und Abschirmung vor dem Anderen, Fremden. Diese Isolation kulminiert denn auch im Gefühl hermetischer Einsamkeit, der Undurchlässigkeit unseres Daseins für das Andere, was immer es auch sei. Ergebnis dieser Prozesse ist die Isolierung der Gesellschaft in der Welt, des Menschen in der Gesellschaft. "Die Festungen der Zivilisation" (Paul Tillich) haben die Gesellschaft und den Menschen vor den elementaren Kräften der Natur, den Menschen vom Menschen und so weiter zu schützen. Mittlerweile beginnen sie aber, so scheint es, ihre Bestimmung allzu gut zu erfüllen, und die Schutzwälle sind zu Gefängnismauern geworden. Das Prinzip Sicherheit und Gefahrlosigkeit ist ein Prinzip der Vermeidung von Unglück.

Langeweile und Vergnügungssucht sind das Ergebnis dieser vielfältigen Sicherheitsgarantien, jene safety, die im Wesentlichen nicht weniger illusorisch ist als die Macht des Zaren Dodon. Wir hören von der tiefen Krise der Kommunikation - in Zeiten unerhörter Kommunikationsmöglichkeiten! Und das ist auch nicht verwunderlich: Denn reale Kommunikation ist nicht möglich, ohne dass die Teilnehmer etwas von sich hergeben, sich öffnen - doch das würde die Grenzen der safety schon überschreiten!

Die postmoderne Kunst ist durch und durch soziologisiert. Sie ist gänzlich auf Strukturen ausgerichtet, die man nur noch parodieren, zerstören oder als tot deklarieren kann. Es ist also auch die Kunst in die Falle der hermetisch geschlossenen Gesellschaft gegangen. Ihr Held und Autor ist der fatal in sich verschlossene Mensch. Wir hören nicht mehr die Stimme des Anderen, die das Wesen der Kunst und jener Erfahrung, die sie mitteilt, ausmacht, und es kann sie ja nichts vollkommener mitteilen als die Kunst. (. . .)

Freie Sicht . . .

Von einem totalitär-vergesellschafteten Standpunkt aus gesehen wird die Hinwendung der Kunst zum Anderen - zu Klang und Glanz - als Eskapismus, als Flucht vor den realen Themen und Problemen abgestempelt. In Wirklichkeit aber - so bin ich überzeugt - besteht die dringlichste und die am meisten politische Aufgabe der Kunst in der Enthermetisierung von Gesellschaft, Geschichte, des Menschen überhaupt, im Brechen eines Fensters in die blinde Mauer unserer Zivilisation - mit freier Sicht auf die Welt. Mit einer Sicht auf das Glück und nicht auf das Vermeiden von Unglück. (. . .)

Das, was wir Glück nennen - nicht Vergnügen, nicht Komfort, sondern gerade dieser lebendigste und brennendste Zustand, der häufig paradoxe Ausdrucksweisen findet, auch in Tränen des Glücks - hängt zusammen mit Selbstvergessenheit, mit dem Überschreiten der eigenen Grenzen, mit der Berührung durch etwas Unermessliches und ewig Neues (denn der Mensch kann für sich nicht neu sein).

Dies kann im Umgang mit sich selbst oder mit anderen, durch die Arbeit am eigenen Kunstwerk oder dem eines anderen geschehen, durch die Beschäftigung mit der Natur oder einfach mit der Welt geschehen. All das kann ein Tyrann gerade nicht bieten - auch die Zivilisation nicht. Aber gerade hier findet sich die eigentliche und wahre Macht: Die Macht des Glücks, der sich der Mensch nicht nur unterwirft wie allen anderen Spielarten der Macht, sondern der er sich freudig unterordnet. (. . .)

. . . auf die Welt

Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, die Kunst als Ausdruck von Traumata und Komplexen zu verstehen und als Mittel, diese Traumata und Komplexe auszuleben. Oder als Kritik des Bösen und der Lüge. Besinnen wir uns auch der anderen, glücklichen Kunst, die nicht aus Schmerz und Versehrtheit entsteht, sondern aus der Fülle des Seins, wie es in der Redewendung heißt: Wenn das Herz voll ist, geht der Mund über. Denn es ist Glück, was wir von der Kunst erwarten: als Erinnerung an das Glück, das wir als unsere eigentliche Heimat denken und für welches wir nur dankbar sein können.

Olga Sedakova, geboren 1949 in Moskau, zählt zu den bedeutendsten Autorinnen der russischen Gegenwartsliteratur; auf Deutsch ist von ihr zuletzt der Erzählband "Reise nach Bjansk" erschienen (Folio-Verlag).