Zur Person

Wilhelm Müller (62) ist Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde mit dem Zusatzfach Neonatologie und Intensivmedizin. Seit 1995 ist der gebürtige Kärntner Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Graz.

Foto: Müller
155 Kinder wurden 2006 in der Grazer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde mit der Diagnose Alkoholvergiftung aufgenommen. Vorstand Wilhelm Müller empfiehlt Suchtprävention bereits im Kindergartenalter. Das Interview führte Regina Philipp.

derStandard.at: Was ist eine akute Alkoholvergiftung?

Müller: Ein Patient mit einer akuten Alkoholvergiftung hat in relativ kurzer Zeit große Mengen Alkohol konsumiert und ist infolge dessen oft nicht mehr ansprechbar. Er ist völlig desorientiert und reagiert kaum auf Fragen. Bei Jugendlichen tritt die Alkoholvergiftung, der Vollrausch sehr schnell auf. Der Überraschungseffekt der Betroffenen ist daher groß. Mediziner verwenden die Bezeichnung Alkoholintoxikation.

derStandard.at: Wann spricht man von einer chronischen Alkoholvergiftung?

Müller: Das ist die chronische Suchterkrankung, der chronische Alkoholmissbrauch über Jahre hinweg.

derStandard.at: Macht es einen Unterschied ob ein Jugendlicher oder ein Erwachsener eine akute Alkoholvergiftung hat?

Müller: Der Unterschied ist, dass ein Jugendlicher, wie beispielsweise ein Dreizehnjähriger ein unreifes und daher besonders verletzliches Zentralnervensystem besitzt. Daher ist die Dosis an Alkohol, die ein Jugendlicher trinkt bevor er bewusstlos zu wird, wesentlich geringer als beim Erwachsenen. Wir hatten an unserer Kinderklinik schon Kinder, die nach erstmaligem Schnapskonsum mit einem Alkoholspiegel von 1,0 bis 1,5 Promille im Blut bewusstlos wurden. Erwachsene werden mit einem Blutalkoholspiegel von vier bis fünf Promille bewusstlos. Kinder durchleben nicht die verschiedenen Stadien des Rausches, wie Euphorie und Enthemmung. Kinder trinken kurz und fallen einfach um.

derStandard.at: Auf welche Organe außer dem Zentralnervensystem wirkt sich der Alkohol noch negativ aus?

Müller: Die akute Vergiftung mit Alkohol führt zu keinen bleibenden Schäden. Die Kinder werden überwacht, bekommen Infusionen und gehen meist am nächsten Tag nach Hause.

derStandard.at: Was macht die akute Alkoholvergiftung dann so gefährlich?

Müller: Ein Problem ist die Unfall- und Erfrierungsgefahr. Im volltrunkenen Zustand ist man beinahe völlig kälte- und schmerzunempfindlich. Die Kinder trinken, fallen irgendwo draußen um und werden, wenn sie Glück haben gefunden bevor sie erfroren sind. In diesem Winter hatten wir bereits zwei Jugendliche, die im letzten Augenblick zufällig von Spaziergängern gefunden wurden.

Ein zweites wichtiges Faktum ist, dass die Verletzungsgefahr unter Alkoholeinfluss generell erhöht ist. Die Dunkelziffer an Kindern und Jugendlichen, die sich mit Alkohol in lebensgefährliche Situationen gebracht haben, ist sehr hoch. Man vermutet, dass 60 Prozent aller Jugendlichen, die in ihrer Freizeit tödlich verunglücken, vorher Alkohol konsumiert haben. Beweis wurde keiner erbracht, denn der Alkoholspiegel wird in diesen Fällen nicht kontrolliert.

derStandard.at: Kann man an der Alkoholvergiftung auch sterben?

Müller: Ja, wenn es zur Atemlähmung kommt. Dazu ist es in Österreich aber schon lange nicht mehr gekommen. Denn im Normalfall werden die Kinder frühzeitig medizinisch versorgt.

derStandard.at: Gibt es ein Gegengift?

Müller: Nein, die Kinder bekommen Zuckerinfusionen. Damit wird der Alkohol in der Leber schneller abgebaut und sie haben weniger Kopfschmerzen. Die medizinische Behandlung selbst ist kein Problem, auch nicht bei Rekordwerten von vier Promille.

derStandard.at: Wird der Magen ausgepumpt?

Müller: Nein. Man überwacht die Ausnüchterung und bietet den Kindern im Anschluss ein Gespräch mit einer Psychologin an.

derStandard.at: Warum ist das Interesse an Alkohol heute schon mit zwölf, dreizehn Jahren schon so groß?

Müller: Neil Postman hat dieses Phänomen 1983 in seinem Buch 'The disappearance of childhood' (Das Verschwinden der Kindheit) – als psychosoziale Akzeleration bezeichnet. Die Kinder haben, beeinflusst von den Medien, eine beschleunigte psychische Entwicklung. Wir wissen das schon lange, nehmen aber jetzt erst zur Kenntnis, dass heute bereits 14-Jährige fortgehen und Alkohol konsumieren wollen und nicht erst 16-Jährige. Das Zentralnervensystem ist deshalb nicht früher entwickelt.

derStandard.at: Warum trinken Jugendliche Alkohol?

Müller: Wir haben versucht das in einer Studie herauszufinden. Ein Drittel der Kinder mit Alkoholvergiftung haben ganz bewusst getrunken um Probleme zu verdrängen. Alkoholkonsum als Bewältigungsstrategie sozusagen. Diese Kinder sind besonders gefährdet. Meist sind familiäre Schwierigkeiten, schulische Probleme und Beziehungsprobleme der Grund. Eine weitere Gruppe betreibt bewusstes Trinken bis zum Umfallen. Die Engländer nennen dieses Phänomen 'binge drinking'. Hier geht es um das Gemeinschaftserlebnis.

derStandard.at: Sind vor allem Alkopops eine Gefahr?

Müller: Nein, viel gefährlicher sind selbst gemischte Getränke. Beliebt sind Energydrinks gemischt mit hochprozentigem Schnaps. Alkopops werden verteufelt, eine Vergiftung mit diesen kommerziellen Mischgetränken ist aber sehr unwahrscheinlich. Denn Alkopops sind teuer und enthalten nur vier Volumsprozent Alkohol. Man müsste sehr viel davon konsumieren um sich zu vergiften. Das heißt aber nicht, dass ich Alkopops befürworte.

derStandard.at: Von welchen Faktoren hängt es ab, ob der Alkohol zur Vergiftung führt?

Müller: Jeder weiß, dass man mit einer ausgiebigen fetten Mahlzeit vor dem Alkoholgenuss den Promillespiegel um 50 Prozent reduzieren kann. Entscheidend ist auch das Körpergewicht. Untergewichtige vertragen natürlich auch weniger Alkohol.

derStandard.at: Wie viele Kinder werden jährlich an der Grazer Kinderklinik mit einer akuten Alkoholvergiftung aufgenommen?

Müller: 2006 waren es 155 Kinder. Das ist der absolute Rekord, so viele hatten wir noch nie. Phänomenal ist vor allem der rapide Anstieg. 1995 hatten wir 13 Kinder mit einer Alkoholvergiftung. Seit 2000 haben wir zwischen 127 und 155 Kinder in der Kinderklinik. Die Zahlen sind österreichweit ähnlich hoch.

derStandard.at: Werden polizeiliche Anzeigen gemacht?

Müller: Nein, es werden nur die Eltern verständigt. Wir haben einmal eine polizeiliche Anzeige gemacht, nachdem wir ein tief bewusstloses Mädchen mit 3,7 Promille aufgenommen hatten. Wir wollten, dass nachgeforscht wird warum ein 14-jähriges Mädchen in einem Lokal so viel Alkohol bekommt.

Der Wirt hatte jedoch eine plausible Erklärung. Er erzählte der Polizei, dass ein 18-jähriger Bursche den Alkohol für das Mädchen bestellt hatte. Anzeigen sind problematisch, denn wir wollen diese Kinder nicht kriminalisieren. 90 Prozent dieser Kinder sehen wir nie wieder.

derStandard.at: Diese Kinder sind also nicht potenziell gefährdet chronische Alkoholiker zu werden?

Müller: Bei den meistern Kindern ist die akute Alkoholvergiftung sozusagen ein Pubertätsunfall. Ein einmaliges Erlebnis. Kinder, die den Alkohol zur Problembewältigung verwendet haben, werden in weiterer Folge von Psychologen betreut.

derStandard.at: Wer übernimmt die Kosten des Krankentransports und des Spitalsaufenthaltes wenn die Diagnose Alkoholvergiftung vorliegt?

Müller: Das ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. Beim ersten Mal übernimmt die Sozialversicherung die Kosten. Beim zweiten oder dritten Mal wird die Krankengeschichte angefordert und es existiert theoretisch die Möglichkeit, dass die Eltern die Kosten übernehmen müssen. Praktisch hat es das aber noch nie gegeben.

derStandard.at: Gesetze gibt es, aber es hält sich niemand daran. Kinder erhalten sowohl in Geschäften wie in Lokalen problemlos Alkohol. Was kann man tun?

Müller: Präventiv aufklären. Mit Geboten, Verboten und mit Drohungen erreicht man nichts. Es ist auch sinnlos Jugendliche aufzuklären und ihnen Alkoholkonsum zu verbieten. In Norddeutschland gab es Projekte zur Aufklärung gegen Suchtverhalten bei Alkohol und Rauchen im letzten Kindergartenjahr und im ersten Volksschuljahr. In diesem Alter muss man mit Suchtprävention beginnen. Kinder zeichnen lassen, was der Alkohol mit Menschen macht.

derStandard.at: Warum so früh?

Müller: Einerseits lassen sich Jugendliche nicht gerne etwas vorschreiben und andererseits erfolgt Prägung in der frühen Kindheit. Leider gibt es hier von politischer Seite wenig Unterstützung. Suchtprävention gehört in den Volksschulunterricht integriert.

derStandard.at: Gibt es in Österreich Projekte in dieser Richtung?

Müller: Mir ist keines bekannt. (derStandard.at, 14.2.2007)