Familie als Duell vielsagender Blicke und Drohgebärden: Hideko Takamine (li.), Mikio Naruses bevorzugte Darstellerin, in "Inazuma (Blitz)".

Foto: Filmmuseum
Wien – Ein Kuss überwindet mühelos die Zeiten, aber es ist nicht mehr so, dass er für das Glück eines Paares einstehen könnte. Zwischen Yukiko (Hideko Takamine) und Kengo (Masayuki Mori) hat sich im Indochina während des Krieges eine Affäre zugetragen; nun ist die junge Frau nach Japan zurückgekehrt, aber der Mann, den sie liebt, ist mit einer kranken Frau verheiratet und weist ihre Avancen zurück – wenngleich nicht eindeutig genug, um das Verhältnis endgültig aufzulösen.

Ukigumo (Treibende Wolken, 1955) erzählt eine Geschichte jener Art, die man gerne als "einfach" bezeichnet: von der Liebe zwischen zwei Menschen, der Ungleichzeitigkeit der Gefühle, den Hindernissen, die nicht nur in äußerlichen Dispositionen, sondern zunehmend auch in inneren Gemengelagen zu finden sind – und gegen dauerhaftes Glück sprechen. Das macht die Geschichte schon viel komplizierter. Anstatt einer Entwicklung zu folgen, an den gängigen Etappen eines Lebens entlang, mäandern die Figuren ziellos durchs Dasein. Sie kriegen sich zu fassen, verlieren sich wieder. Haltlos, aber nicht ausweglos, leidensreich, aber nicht schonungslos ist ihr Zusammensein.

Der japanische Regisseur Mikio Naruse, der (zumindest im Westen) große Unbekannte neben ungleich Prominenteren wie Kurosawa, Ozu oder Mizoguchi, war ein Spezialist für die ephemeren und stets sehr diesseitigen Angelegenheiten des Lebens. Sein Feld waren die "shomingeki", die Dramen und Geschichten der gewöhnlichen Leute, bevorzugt soziales, meist familiäres Miteinander (vielleicht treffender: Neben- und Gegeneinander) im Alltag – davon künden schon die ungeschmückten Filmtitel: Tsuma (Ehefrau, 1953), Fûfu (Eheleute, 1953), Okâ-san (Mutter, 1952) oder Tsuma yo bara no yô ni (Meine Frau, sei wie eine Rose!, 1935), einer der ersten japanischen Filme, die im Westen Furore machten.

Heiter, unverwüstlich

Von Beginn an beweist Naruse, 1905 in ärmlichen Verhältnissen als Sohn eines Stickers geboren, viel Sensibilität für die Fragen des wirtschaftlichen Auskommens. In Hideko no shashô-san (Hideko, die Busschaffnerin, 1941) ist die Titelheldin – schon hier mit Hideko Takamine, der in ihrer heiteren Unverwüstlichkeit vielleicht exemplarischsten Darstellerin Naruses – mit Modernisierungsplänen beschäftigt: Sie will nicht nur Tickets lösen, sondern auf der Fahrt auch Wissenswertes über die Umgebung erzählen. Man engagiert einen Schriftsteller aus Tokio, übt den Singsang des Ansagens, aber der Inhaber des Buses ist ein derber Kerl, dem die Wünsche seiner Angestellten herzlich egal sind.

Naruse macht in diesem für seine Verhältnisse lichten Film sehr deutlich, auf wessen Seite er steht, zugleich bleibt er auch gnadenlos realistisch. 15 Jahre später kämpft in Nagareru (Fließen, 1956) eine Geisha darum, ihr Etablissement vor dem Ruin zu retten. Jeden Tag wird sie von aufgebrachten Tanten oder grobschlächtigen Männern aufgesucht, die sie drängen, endlich ihre Schulden zu begleichen. Obwohl auf der eine Seite deutlich wird, dass diese traditionelle Form weiblicher Dienstleistung unwiderrufbar vorbei ist, nutzt der Film die Gelegenheit, facettenreiche Frauenporträts zu entwerfen, deren Modernität eben genau darin liegt, auf keinen Mann angewiesen sein zu müssen. In einer bemerkenswerten Parallelmontage gegen Ende von Nagareru spielt die Herrin des Hauses auf ihrem Saiteninstrument gleichsam gegen den Lauf der Zeit, während ihre Tochter schon an einer Nähmaschine sitzt. Dass mit diesem neuen Beruf keine Form von weiblicher Sozietät verbunden ist – und dieser deshalb auch weit weniger Schutz gewährt –, ist zu diesem Zeitpunkt längst evident: Das Haus der Geishas ist bei Naruse auch ein Auffanglager für Frauen – wie etwa dem verwitweten Dienstmädchen, mit deren Blick wir diese exklusive Welt betreten.

Es kommt somit nicht von ungefähr, dass Naruse als Frauenregisseur gilt. Dabei sollte man jedoch nicht vergessen, wie behände er deren Lebenslagen auslotet. Die häuslichen Melodramen, die er in den 50er-Jahren für das Toho-Studio fertigte, gelten auch aufgrund ihres fließenden Rhythmus, der fein ausbalancierten Folge von Einstellungen, die sich nie ausdrücklich als Stil zu erkennen gibt, als Höhepunkt seines Schaffens.

Ein Beispiel: Yama no oto (Der Klang des Berges , 1954), der das familiäre Miteinander zweier Generationen beschreibt. Der Vater versucht in der Ehe seines Sohnes zu vermitteln, wobei ihm viel an der Schwiegertochter liegt, die unter den Eskapaden ihres Mannes still leidet. Wie Naruse hier Beziehungsachsen um Figuren konstruiert, die zwischen traditionellen Lebensweisen und modernerem Unabhängigkeitstreben kein Auskommen finden – und doch unberechenbar bleiben –, das ist die Kunst eines Beobachters, der das Wahre nie ohne das Falsche sieht. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Printausgabe, 14.02.2007)