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Sieht in Carl Maria von Webers Oper ein modernes Stück – Eugen Drewermann.

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Wien – Folgt man der Interpretation von Eugen Drewermann, so ist Der Freischütz nur vordergründig eine simple Geschichte über ein Wettschießen und die dadurch zu erringende "Preisjungfer". Dass gerade dieses tradierte Ritual nicht mehr funktioniert, zeigt bereits, dass es in dieser deutschesten aller Opern um mehr geht: um das neu zu definierende Geschlechterverhältnis und die Voraussetzungen der Liebe, aber auch um einen sozialen Paradigmenwechsel – von der durch die Erbförsterei dargestellten feudalen Gesellschaft zur Entdeckung der Individualität.

Standard: Was verrät uns "Der Freischütz" über das "Böse"?

Eugen Drewermann: Wir haben es mit der Verarbeitung eines Sagenstoffs zu tun, in Gestalt eines Märchens, das zur Oper wurde und den Geist der Romantik atmet. Liest man das Libretto, hat man den Eindruck einer moralischen Schwarz-Weiß-Malerei: die gute Agathe, der böse Max. Das Reine, das Teuflisch-Dämonische, der Pakt mit dem Ungeheuer. In Wirklichkeit hat man psychologisch eine überaus konzentrierte Form der Darstellung menschlicher Tragödie vor sich: Ein Mann liebt eine Frau, und beide sind wie versprochen füreinander. Dann aber wird die Liebe an die Bedingung erwiesener Männlichkeit durch den Probeschuss geknüpft. Und die Angst zu versagen führt dahin, dass Max wirklich versagt. In seiner Verzweiflung wendet er sich an eine Macht, die ihn am Ende fast das zerstören lässt, was er liebt.

Standard: Eine fehlgeleitete Liebe, wie die vom Teufel gelenkte Freikugel?

Drewermann: Es ist nicht mehr möglich, entsprechend den machohaften Wahnideen über das, was ein Mann sein sollte, Liebe zu definieren. Am Ende wird der Eremit genau das sagen: Es muss der Freischütz freigesprochen werden von der Auflage des Probeschusses. Bewährung in der Liebe ist etwas anderes als perfektes Jägertum. Insofern ist die Gesellschaft selber zu korrigieren, die den Grund der Angst vor dem Scheitern, der Verbrüderung mit den Schattenseiten des eigenen Ichs darstellt.

Standard: Ist damit diese Gesellschaft überwunden? Männlichkeitsideale werden ungebrochen transportiert …

Drewermann: … bis in die Schlussszene hinein, als deutlich wird, dass diese Ideale im Grunde die Schuld an der ganzen fast zum Untergang führenden Dramaturgie tragen. Es ist ja auch Agathe, die sich frei machen müsste von dem Zwang, Liebe nur bedingungsweise dem erfolgreichen, perfekt sich darstellenden Meisterschützen zu vergeben. Die Liebe müsste sich auf die Person des anderen richten und nicht an solche absurde Vorbedingungen – aber das muss sie lernen, sie ist nicht einfach reich an Güte, sondern gesellschaftsabhängig von einer zerstörerischen Idealbildung.

Standard: Hat diese Agathe überhaupt einen Handlungsspielraum, oder ist sie nur eine jungfräuliche Idealfigur, in die christliche Symbolik hineinprojiziert wird, also vollkommen passiv und verletzlich?

Drewermann: Die Verwechslung mit der Jungfrau, das Taubensymbol, setzt Agathe in die Rolle einer Heiligen, aber in Wirklichkeit ist sie völlig ohnmächtig. Sie leistet zur Erlösung von Max gar nichts. Die wirkliche synthetische Gestalt ist der Eremit, der einen Freispruch aus Gnade verkündet. Agathe ist nichts weiter als das Wunschbild einer Gesellschaft, die sich heuchlerisch reinspricht von den Opfern, die sie selber fordert. Es ist ein ganz modernes Stück, wenn man es so sieht, in der psychologisch weit gehend noch unreflektierten Handlungsanlage.

Standard: Dennoch ist die psychologisch deutbare Symbolik ganz klar.

Drewermann: In Wien kann man nicht 100 Jahre nach dem Sigmund Freud des Ödipus-Komplexes und des Vater-Komplexes die Ambivalenz der Gefühle übersehen, wenn etwa auf Max herabgeblickt wird: Es ist ein Wohlwollen, das gleichzeitig vernichtet, wenn die netten Kameraden gleich in der Eingangsszene ihn auf eine Weise beiseite stellen, sodass man spürt, wie unter dem Diktat der Perfektion der Sadismus lauert, der Konkurrenzneid. Schon steht ja der Bauer da als der Mann, der es besser kann. Die ständige Angst, dass man im globalisierten Wettbewerb so lange erfolgreich kann, wie man mag – es kommt jemand, der es noch besser kann. Dann ist der freie Fall in die Vernichtung da: Das alles ist hier in wenigen Szenen symbolisch, aber doch auch bis zur Grenze des Realen dargestellt.

Standard: Sind die Träume mit ihren überdeutlichen Bildern eine Gegenwelt dazu?

Drewermann: Das Spiel mit den Träumen ist natürlich virtuos, das Bild, das von der Wand herunterfällt, der Adler, der vom Himmel herabgeholt wird, all diese Omina. Man ist in der Angst wirklich wie ein kleines Kind gebunden: an die Magie, an die Allmacht des Wünschens – man muss die Minderwertigkeit überkompensieren durch ein wahnhaftes Ideal: Es genügt nicht mehr, ein guter Jäger, man muss der Allerbeste sein. Und dann ist auch die Figur des Kaspar so deutlich: Auch er hatte sich einmal in Agathe verliebt, war von ihr abgewiesen worden und ebnet dann den Weg ins Negative vorweg, zu dem er Max dann verführt. Kaspars Tragödie ist im Grunde das, was auf Max zukommen wird, wenn es bei den Bedingungen bleibt.

Standard: Mit Kaspar kommt neben magischem Denken auch Aberglaube hinzu ...

Drewermann: Insofern ist die Frage auch an die Religion gerichtet, was sie eigentlich tut, wenn sie nur bei der Verwaltung der magischen Bilder bleibt, statt die psychischen Probleme, die Gefühle durchzuarbeiten und zur Freiheit hin zu geleiten. Ohne Verstehen des Menschen sind selbst die Symbole missbräuchlich. Wenn die Märchen uns an die Erlösungskraft der Liebe glauben machen möchten, ist das im Freischütz stärker an die Erlösungskraft der göttlichen Liebe gebunden, der Gnade, die dazu führt, dass Menschen fähig werden, ihre wahnhaften Vorbedingungen aufzugeben. Das ist für mich als Theologe zu betonen. Entscheidend ist der Eremit und seine Botschaft aus einer anderen Welt.

Standard: Bietet der Männlichkeitswahn auch so etwas wie eine Ersatzreligion?

Drewermann: Was keiner der Romantiker geglaubt hätte, ist Tatsache geworden. Alle Warnungen vor dem Maschinenzeitalter, das Goethe noch als Albtraum beschwor und das sich im Manchester-Kapitalismus ausbreitete, ist heute die reine Wahrheit geworden, hat sich als Erfolgsstrategie um den Erdball gespannt. Insofern ist es nicht mehr nur ein psychologisches Thema, sondern ein in der Gesellschaft angelegtes wirtschaftliches Problem: Nur die Besten sollen überleben, und die Liebe wird damit zu einem käuflichen Gegenstand. Erfolg oder Geld wird aufgewertet als "most sexiest" und damit jeder Würde beraubt. Die Romantik sah, dass so etwas möglich ist.

Standard: Auch die zynische Zuspitzung des Sozialdarwinismus, wie wir sie erleben?

Drewermann: In der Oper Freischütz scheint es noch individuell verfügbar zu sein, was man für ein Mensch ist. Aber dieses Feld der persönlichen Ansprechbarkeit wird immer weiter in den Systemzwängen aufgehoben: eine gefühllose, kalt gewordene Welt, sodass die Frage auch bleibt, wie man die Sprache der Romantik so verstehen kann, dass sie die sozialrevolutionären Impulse, die sie einmal bewiesen hat, zurückgewinnen könnte. Meine Empfehlung wäre deswegen, sich nicht in der bloß ästhetischen Befriedigung über die wunderschönen Texte und Arien des Freischütz zu beruhigen und dann zufrieden nach Hause zu gehen. Es sollte nicht eine bloße Bürgerberuhigung sein, im Gegenteil. (Daniel Ender/ DER STANDARD, Printausgabe, 13.02.2007)