Peter Nierlich (59) studierte an der Universität Wien Medizin und begann seine Karriere als praktischer Arzt, sattelte aber in die Pharmabranche um und war zuerst für das Sandoz, später für Schering im Marketing und als Verantwortlicher klinischer Studien tätig.

Seit 2002 leitet er die österreichischen Aktivitäten von Orphan Europe, einem französischen Konzern, der sich auf die Medikamentenentwicklung seltener Erkrankungen spezialisiert hat.

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Till Voigtländer (43) ist Neurologe und seit 1998 am Klinischen Institut für Neurologie und Neuropathologie der Universität Wien tätig. Seit vergangenem Jahr leitet er das Klinische Labor für Neurochemie und Neuroimmunologie.

Er hat in Heidelberg Medizin studiert und am Max-Delbrück-Zentrum für molekulare Medizin in Berlin promoviert. Bevor er nach Wien kam, hat er in Zürich gearbeitet.

Seit 2004 koordiniert er die Aktivitäten von Orphanet Österreich.

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Es gibt Erkrankungen, an denen statistisch nur wenige Menschen leiden. Therapie gibt es kaum. Durch Vernetzung soll es anders werden, sagt der Neurologe Till Voigtländer. Peter Nierlich vom Pharmaunternehmen Orphan Europe sieht Chancen, erfuhr Marietta Türk. STANDARD: Weltweit sind derzeit 4000 bis 5000 seltene Krankheiten bekannt, für die es kaum oder gar keine Behandlung gibt. Haben solche Patienten einfach Pech?

Voigtländer: Beim Begriff selten ist Vorsicht geboten, denn in der Summe sind Orphan Diseases ein Faktor, allein in Europa sind bis zu 30 Millionen Menschen von einer dieser seltenen Krankheiten betroffen - unmittelbar oder mittelbar, denn meistens ist auch das soziale Umfeld massiv dadurch beeinträchtigt. Da bekommt das Wort "selten" schon eine neue Dimension. Man muss Orphan Diseases also ganz anders betrachten. In jedem Fall geht es um individuelle Schicksale, viele der seltenen Erkrankungen sind chronisch, das heißt, Menschen leiden ein Leben lang daran.

STANDARD: Was ist das Problem bei der Erforschung seltener Krankheiten?

Nierlich: Die Erforschung von Krankheiten und in der Folge das Entwickeln von Arzneimitteln ist aufwändig und teuer. Bei geringen Patientenzahlen ist der Spielraum für die pharmazeutische Industrie sehr eng. Zudem sind meist Kinder davon betroffen, hier ist man wegen der Ethik, was die Medikamentenentwicklung betrifft, besonders gefordert.

Voigtländer: Die Entwicklungskosten sind aber nicht das einzige Problem. Bevor man an Therapie denken kann, muss die Erkrankung selbst erforscht werden. Dafür muss man unterschiedliche Krankengeschichten über Jahre vergleichen, Diagnoseverfahren entwickeln. Wenn man beispielsweise nur drei Krankheitsfälle in einem Land hat, ist das unmöglich. Es geht also bei 'vernachlässigten Erkrankungen' erst einmal auch um supranationale Vernetzung. Die Internet-Plattform Orphanet ist eine unterstützende Begleitmaßnahme, die als Anlaufstelle für Betroffene, behandelnde Ärzte, Forscher und Industrie konzipiert ist.

Nierlich: 1983 wurde der Begriff 'Orphan Arzneimittel' (Orphan Drug) zum ersten Mal für die Bezeichnung eines Medikaments zur Behandlung von Patienten mit seltenen Erkrankungen verwendet. In dem Jahr wurde auch der 'Or-phan Drug Act' in den USA erlassen, um die Forschung und Entwicklung von Orphan-Arzneimitteln für seltene Erkrankungen zu fördern. In Europa trat die Orphan-Drug-Verordnung im April 2000 in Kraft. Doch selbst nach Inkrafttreten des Gesetzes wird dieser Nischenmarkt für die meisten großen Pharmaunternehmen aufgrund seiner geringen Profitabilität wenig attraktiv bleiben. Daher werden Orphan- Arzneimittel gewöhnlich von kleinen innovativen Unternehmen entwickelt. Der wesentliche Unterschied bei der Zulassung einer Orphan Drug zu den herkömmlichen Medikamenten besteht darin, dass für die Zulassung PHASE-III- Studien (Tests an einer hohen Patientenanzahl in verschiedenen Zentren) nicht durchgeführt werden müssen.

STANDARD: Orphan Europe, das Unternehmen, für das Sie arbeiten, hat sich auf diese Nische spezialisiert. Warum?

Nierlich: Dieser Bereich bietet ja auch Chancen. Wir versuchen für chronisch kranke Menschen, die ja meist in der Kindheit bereits erkranken und dann einer lebenslänglichen Therapie bedürfen, eine Lösung zu finden. Wir sind dauernd auf der Suche nach neuen Wirkstoffen. Wenn uns ein Erfolg gelingt, dann ist das lukrativ. Das ist unsere Nische. Aber es gibt sehr lange Vorlaufzeiten, mit denen wir kämpfen. Oft dauert es fünf bis zehn Jahre, bis Gewinne sichtbar sind.

STANDARD: Wäre es denn nicht auch besonders eine Aufgabe der unabhängigen Forschung, sich mit solchen Erkrankungen verstärkt auseinanderzusetzen?

Voigtländer: Das tut sie auch, die EU hat es auf ihre Agenda gesetzt und spezielle Förderprogramme auf Schiene gebracht. In Österreich besteht aber Nachholbedarf.

Nierlich: An den Universitäten wird Grundlagenforschung betrieben. Es wäre auch in Europa sinnvoll, wenn die Universitäten und die pharmazeutische Industrie Projekte gemeinsam planen und durchführen. Stellen Sie sich vor, Viagra wäre in Kooperation mit einer österreichischen Universität entstanden. Ich nehme an, die Studiengebühren wären dann vor und nach den Wahlen kein Thema gewesen.

Voigtländer: Es kommt aber auch auf das gesellschaftliche Bewusstsein den seltenen Erkrankungen gegenüber an. Leider kennen die meisten Menschen in Österreich, wie auch in vielen anderen europäischen Ländern, diese spezielle Problematik nicht. In Frankreich ist das zum Beispiel ganz anders. Da gibt es Jahr für Jahr den 'Marsch für seltene Erkrankungen', an dem mittlerweile 10.000 Menschen teilnehmen. Da stehen Selbsthilfegruppen dahinter, die sehr aktiv sind. Und darauf kommt es an. Bestimmte Krankheiten müssen es erst einmal ins öffentliche Bewusstsein schaffen. In Frankreich ist das gelungen. 70 Prozent aller Franzosen sind sich der Problematik seltener Erkrankungen bewusst. Das fördert natürlich die Bereitschaft der Politiker zum Handeln, und dementsprechend hoch ist auch das Budget für die Forschung. 25 Millionen Euro von 2004 bis 2008, das ist nicht schlecht.

STANDARD: Und in Österreich?

Voigtländer: In Österreich wurde im vergangenen Jahr ein Anfang gemacht mit einem Projekt, bei dem im Rahmen von zwei Millionen Euro über drei Jahre Krankheiten wie Mukopolysaccharidosen in Forschung, Diagnostik und Behandlung gefördert werden.

STANDARD: Werden Orphan Drugs auch von den großen pharmazeutischen Betrieben entwickelt?

Voigtländer: Das ist diskussionswürdig. Pharmaunternehmen könnten im Sinne einer internen Quersubventionierung einen kleinen Prozentsatz ihres Budgets genau dafür zur Verfügung stellen. Dann verdienen sie nicht mehr ganz so viel, aber sie verdienen immer noch.

Nierlich: Dann sollten aber die politischen Rahmenbedingungen angepasst werden, um dieses zusätzliche Geld für Forschung und Entwicklung der Medikamente für seltene Krankheiten auch einzusetzen. Gewinn ist etwas Legitimes. Verluste kann sich keine Firma leisten.

STANDARD: Werden Orphan Drugs, im Fall, dass es sie denn gibt, denn auch von den Krankenkassen bezahlt?

Nierlich: Ein Beispiel: Bei unserem Impfstoff Aerugen gegen Pseudomonas Aeruginosa bei Kindern mit Cystischer Fibrose, der aber bedauerlicherweise in einer großen klinischen Doppelblindstudie keine statistische Signifikanz erzielte, hat es mit den Krankenkassen kein Problem bei der Kostenübernahme gegeben, obwohl der Impfstoff 2600 Euro kostete. Manchmal kommt es zwar zu kleineren Verständnisproblemen, insgesamt muss man sich aber in Österreich noch keine Sorgen machen.

Voigtländer: Das kann ich nicht bestätigen, mir sind Fälle bekannt, etwa Enzymersatztherapien für 50.000 bis 100.000 Euro pro Jahr, bei denen es hinsichtlich der Kostenübernahme zu Problemen kam.

STANDARD: Wohin sollen sich Betroffene und deren Angehörige also konkret wenden?

Voigtländer: An Orphanet. Ärzte und Betroffene haben auf dieser Internet-Plattform die Möglichkeit, bei Verdachtsdiagnosen diagnostische Zentren oder Behandlungseinrichtungen zu eruieren. Zudem findet man Informationen zu Selbsthilfegruppen, Forschungsprojekten und klinischen Studien. (Marietta Türk/MEDSTANDARD/12.02.2007)