Ich sah, wie links und rechts von mir Luft geholt wurde. Um P. darauf hinzuweisen, dass die Sache mit dem Erbrochenen-Geruch in der U1 zur Sommerzeit nun wirklich ein alter Hut sei. Dass wir doch eh alle wüssten, dass dieses Olfaktorium das Resultat von Hitze, Feuchtigkeit und irgendwelchen Binde- oder Klebemitteln in den alten Röhren sei. oder so ähnlich.
Achselhöhle
Aber bevor noch einer was sagen konnte, setzte P. schon fort: Er habe, sagte er, soeben fest gestellt, dass der Sommer nicht schlimmer als der Winter sei. Und zwar trotz jener oft genug infernalischen Mischung aus Düften, die sich zusammenbraue, wenn ruderleiberlfreigelegte (Männer-)Achseln mit ungewaschenen, schwitzenden Körpern, ungelüfteter alter Kleidung und dem Ausdampfen von altem, kaltem Beislrauch und Alkoholdünsten auf engem Raum zusammen fänden.
Auch die Ergänzung dieser Duftmarke durch Döner-, Pizza- oder Leberkäsesemmelausdünstungen (am besten am frühen Morgen), die – ebenso wie geöffnete Bierdosen und halbgerauchte Tschickstummel – eher in den Händen der Mitreisenden zu finden seien, wenn die Außentemperaturen freundlich sind, meinte P., müsse er nun unter „nicht das allerschlimmste“ einordnen. Und, nein, nicht einmal das überparfumierte Dufterlebnis durch Jungmädchen, die im Umgang mit käuflichen olfaktorischen Lockstoffen noch unerfahren experimentieren, verdiene dieses Verdikt mehr.
Eingekotet
Wir wurden neugierig. Aber P. drehte noch ein bisserl and er Schraube: Bisher, sagte er, sei das schlimmste, was er in den Öffis an Gerüchen erlebt habe, en Kombination all der vorherigen Faktoren mit der Marke eines betrunkenen, aber vor allem komplett eingekoteten, Obdachlosen gewesen, der sich zur Stoßzeit in einen knackevollen U-Bahnwaggon gedrängelt habe. Hei, lachte P. in der Erinnerung auf, sei das ein Drängelnd & Würgen gewesen.
Aber es gehe schlimmer. Und soeben habe er sich beinahe – und er schwöre, wirklich zum ersten Mal – im Bus beinahe übergeben müssen. Was? Fragten wir. Wieso? Und P. erzählte: Der Bus sei voll gewesen. Er, P., sei gestanden. Und vor ihm sei einer gestanden, der halt ein bisserl ungewaschen gerochen habe. Aber dank der Winterjacken sei das nicht so schlimm gewesen.
Ohrenschmalz
Dann aber habe der vor ihm seine Mütze abgenommen. Und ein Ohrenschmalzbergwerk freigelegt, das – er schöre nochmals, hier nicht zu übertreiben, sagte P. – wie ein quer liegender Stalagmit (oder dann doch Stalagtit) einen halben Zentimeter aus dem Ohr heraus gestanden habe. Zuerst, so P. sei da in seinem Kopf noch kurz fasziniert die Frage aufgetaucht, ob so ein Ohrenschmalzberg denn von unten herauf wachse oder wie sonst ein solches Ding entstehen könne. Aber dann habe der Ekel überhand genommen und er habe sich bemüht, woanders hin zu schauen.
Weil es aber nicht so leicht ist, irgendwo bewusst vorbei zu blicken, sie er, P., dann sogar froh gewesen, als der Ohrenschmalzträger sich umgedreht habe. Und ihm frontal gegenüber stand. Doch die Freude sei kurz gewesen: Der Mann habe ihn nämlich angerülpst. Ohne böse Absicht, einfach so. Aus einem Mund voll schwarzer bis nikotinfleckiger Zahnruinen. Und das was da an sattem, solidem Mundgeruch plus gärenden Magendämpfen plötzlich um seinen Schädel geweht sei, sagte P., sei das schlimmste, übelste und verheerendste Geruchserlebnis gewesen, dass ihm je zugestoßen sei.
Trauma
Der Duft, sagte P., sei so infam und hinterhältig gewesen, dass ihm, wo er doch sonst ein Freund und Meister der blumig-poetischen Beschreibung des Nichtgegenständlichen sei, noch immer die Worte fehlten. So, als wäre das ganze Archiv an Vernichtungs-Adjektiva im Dampf des Verdauungssystems seines Gegenübers betäubt, zerstört und aufgelöst worden. Als habe sein Erinnerungszentrum auf „Erase all data“ und Notabschaltung gesetzt, um die Folgen der Geruchs-Traumatisierung möglichst gering zu halten.