Peter Sloterdijk als Vortragender im Wiener Akademietheater (Donnerstag, 20 Uhr): "Die Menschen wollen nicht nur wie Schweine in einer horizontlosen Bequemlichkeit dahinleben."

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STANDARD: Der Zorn, das Thema Ihres jüngsten Buchs, war auch anlässlich der Regierungsbildung in Österreich ein Thema: Funktionäre waren erzürnt, Studenten gingen auf die Straße. Wie interpretieren Sie diese Phänomene?

Peter Sloterdijk: Solche Zornesregungen wie die beschriebene darf man auf keinen Fall nebenbei abtun! Die Zentralfigur des modernen Weltentwurfs - der Bürger selbst - könnte als nicht-empörungsfähiges Subjekt gar nicht konzipiert werden. Schon Aristoteles meinte: Wer nicht zornfähig ist, kann auch nicht Teil einer politischen Kommune sein. Wenn man sich nicht empört über das, was im Gemeinwesen nicht in Ordnung ist, wird man kein politisches Wesen. Aber man kann diese von Ihnen angesprochenen Phänomene auch als simple Zeichen des Niedergangs der Sozialdemokratie ansehen.

STANDARD: Inwiefern?

Sloterdijk: Wenn die Studenten den künftigen Kanzler an seine Wahlversprechen erinnern und er antwortet: Diese Protestierer sind bloß eine kleine Minderheit von Radikalen, so zeigt das etwas vom Strukturwandel der Politik, die dabei ist, ganz auf Akklamation durch das Volk umzustellen. Allerdings ist die Sozialdemokratie sowieso keine Studentenpartei, denn die Studenten, die jetzt umsonst studieren wollen, sind, soziologisch gesehen, die Privilegierten von morgen. Die SPÖ-Allianz mit dem Protest gegen Studiengebühren war ohnehin rein opportunistisch.

STANDARD: Sie beschreiben in Ihrem Großessay den Zorn als Grundelement der altabendländischen Kultur.

Sloterdijk: Ich erzähle in meinem Buch die Geschichte der Zornwirtschaften - von der Antike über das Christentum bis zum Kommunismus und der aktuellen Konsumgesellschaft. Dabei zeigt sich, wie sehr dieser Affekt metamorphosefähig ist und wie tief er in die ursprüngliche Fabrikation der Bürgergesellschaft verwoben ist. Beim politischen Leben handelt es sich ja immer um die Zusammensetzung zweier Energien: Zum einen um eine Art "ziviler Erotik", die der Freude am Konzert der Menschen entspringt, die gemeinsam ihre Lebensverhältnisse organisieren. Zum anderen um eine Stolz- und Zornkomponente, ohne die man sich die Interessenvertretung und den Kampf um gerechte Verhältnisse nicht vorstellen kann. In der klassischen Antike hat man den zürnenden Aspekt der politischen Psyche ziemlich positiv beschrieben. Der Achilles-Faktor hingegen, das heißt die heroisch-kampfeswütige Codierung des "thymós", haben wir notwendigerweise hinter uns gelassen. Unter Europäern gibt es keine "Berserkerromantik" mehr.

STANDARD: Bei allen neuzeitlichen Hegungen, die wir den "heroischen" Anwandlungen haben aus guten Gründen angedeihen lassen: Werden wir da nicht ein Stück weit um das Pathos der "authentischen" Zorneswallung betrogen?

Sloterdijk: Die Zornhegung ist für die politische Zivilisation unabdingbar. Dabei wird immer das Rohe in den Dienst des Feinen gestellt. Die Wut und das Ideal bilden eine energetische Allianz. Im Mittelalter treten die politischen Affekte in den Hintergrund und kehren erst wieder, wenn mit der Neuentstehung der Stadtkulturen die Stunde der bürgerlichen Thymotik ein zweites Mal schlägt. Wir bezeichnen diesen Vorgang als den Komplex aus Reformation und Renaissance. Die Reformation war der Versuch, Christentum und Berufstätigkeit miteinander kompatibel zu machen.

STANDARD: Sollten wir in unserer Kultur nicht sogar von einer "Erschlaffung" der einschlägigen Regungen sprechen?

Sloterdijk: Die kapitalistische Psyche wird nicht über den Stolz, sondern über die Gier geregelt. In der Eros-Thymos-Polarität der westlichen Kultur ist heute eindeutig der Eros stärker akzentuiert. Das geht so weit, dass dieser selbst heroische und exzessive Züge annehmen kann: Eros bedeutet Gier, und wenn Gier heroisch ist, will sie Milliardäre erzeugen. Selbst der Stoffwechsel kann dann zur Performance werden - die Helden der Gier möchten sich durch alle Kuchenberge der Welt hindurchfressen und sich auf allen Matratzen verausgaben.

STANDARD: Wo könnte man diese thymotischen Gefühlsregungen heute überhaupt noch finden?

Sloterdijk: Man muss sie im Moment in marginalen Funktionen suchen, weil die klassischen Sammelmöglichkeiten in der traditionellen Linken nicht mehr gegeben sind. Die Linke selbst ist in der Nachkriegszeit ja zu einer Art Konsumverein mutiert. Während ihrer besten Zeit war die Linke in ihren drei Hauptstämmen, Kommunismus, Sozialdemokratie, Anarchismus, viel mehr eine Stolzbewegung als ein Organ des Volkskonsumismus. In dieser Zeit profitierte sie von ihrem politischen Drohvermögen. Nicht vergessen: Souverän ist, wer glaubhaft drohen kann.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Sloterdijk: Die sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit entstanden in einer Konstellation, als die Sozialdemokratie den realen Kommunismus im Rücken hatte. Sie konnte damals drohen, ohne selbst die Faust zu ballen. An der Wurzel ihres Machtbewusstseins stand der Mythos vom Generalstreik - alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will. Nur in dieser Konstellation konnte die Mischwirtschaft der Nachkriegszeit entstehen - und mit ihr der extrem ausgebaute Sozialstaat, den wir jetzt abschmelzen sehen. Die ersten, die begriffen haben, dass der Kommunismus nicht mehr drohfähig war, waren die englischen Neoliberalen der mittleren 70er-Jahre. Margaret Thatcher hat die Wende eingeleitet, die zum real existierenden Kapitalismus unserer Tage führen sollte.

STANDARD: Die Sozialdemokratie hatte dem wenig entgegenzusetzen ...

Sloterdijk: Die Reichtumsmaschine Kapitalismus ist inzwischen auch von der Linken als solche akzeptiert - so lange die Umverteilungsquote hoch genug bleibt, um die soziale Frage zu entschärfen. Im 19. Jahrhundert waren vier Fünftel der Menschen arm, heute sind es zehn bis fünfzehn Prozent. Die Gruppe der relativ Zufriedenen bildet die große Mehrheit - das ist die psychopolitische Primärtatsache der europäischen Gegenwart. Eher stellt sich jetzt die Frage, wie man die relativ Zufriedenen erneut unzufrieden machen kann.

STANDARD: Und wie könnte das gehen?

Sloterdijk: Unzufriedenheit wird heute nicht politisch erzeugt, sondern konsumistisch. Wir leben in der Dauerpropaganda des schöner Wohnens und süßer Lebens. Über diese Komparative wird Unzufriedenheit mobilisiert. Andererseits entsteht gerade unter solchen Bedingungen ein Trend, den Stolz wieder zu entdecken. Die Menschen in der überversicherten Zone wollen nicht nur wie Schweine in einer horizontlosen Bequemlichkeit dahinleben. Die Wohlhabenden können nicht auf Dauer ihre Selbstachtung wahren, wenn sie das verelendete Außen seinem Schicksal überlassen. Es gibt viel moralische Energie, die nicht im Konsumismus aufgeht.

STANDARD: Sie meinen damit aber nicht all die Charitys und Benefizveranstaltungen, auf denen sich die reiche Prominenz so gern zeigt?

Sloterdijk: Der erste Affekt ist natürlich, sich darüber lustig zu machen. Auf den zweiten Blick stellt sich die Sache anders dar. Was soll denn so ein armer reicher Mensch denn heute ansonsten tun? Man kann das Charitysystem auch als Teil einer thymotischen Renaissance ansehen. Dies führt dazu, dass man sich für Lebensformen interessiert, bei denen man den Kopf hoch tragen kann. Dazu gehört, mit seinem Vermögen etwas jenseits der Gier zu machen. Der erste Schritt in dieses Jenseits ist oft das Sammeln von Kunst. Da riecht man zwar noch den Stall nebenan, weil Kunst für viele nur eine alternative Geldanlage ist. Trotzdem ist die Öffnung zur Kunst ein richtiger Schritt.

STANDARD: Für wie "zornfähig" halten Sie sich selbst?

Sloterdijk: Für einen von Nietzsche stark beeinflussten Autor wie mich ist es klar, dass die Ressentimentanalyse am Anfang steht. Aus ihr ergibt sich ein klarer Imperativ: Lebe jederzeit so, dass du kein Ressentiment ansammelst. Da werden Ethik und Diätetik eins.

STANDARD: Wie zornig haben Sie die Reaktionen nach ihrer Menschenpark-Rede gemacht?

Sloterdijk: Ich habe damals begriffen, dass es nie in Frage kommt, in die Opferrolle zu fallen, wenn man 95 Prozent der Presse gegen sich hat. In der Bilanz war der Sturm von damals für mich eine wertvolle Erfahrung. Ich habe gelernt, dass man sich als Einzelner mit wenigen Verbündeten behaupten kann. Man kann es auch mit Nietzsche sagen: "Im Angriff liegt klingendes Spiel." (Die Fragen stellten Ronald Pohl und Klaus Taschwer, DER STANDARD, Print, 25.1.2007)