Canfora: "Was am Ende - oder besser: beim gegenwärtigen Stand der Dinge - die Oberhand gewonnen hat, ist die ,Freiheit'. Sie ist im Begriff, die Demokratie zu besiegen. Wohlgemerkt nicht die Freiheit aller, sondern die Freiheit derjenigen, die aus dem Konkurrenzkampf als die 'Stärkeren' hervorgehen (seien es Staaten, Regionen oder Individuen)."
Es war, durchaus bezeichnend, weniger dieses Fazit, das Canforas Buch zum Skandalon werden ließ, als vielmehr die (linke) Position, der man ein solides Fundament an und für sich nicht absprechen konnte: Jeder zweite Globalisierungskritiker, und sei er noch so medioker in seinen Thesen, mag irgendwann Ähnliches zum Besten geben und damit den einschlägigen Sachbuch-Markt bedienen. Im Falle des in Bari lebenden und lehrenden Universitätsprofessors und Kommunisten jedoch, der sich nicht nur in Fachkreisen eines exzellenten Rufs erfreut (gefeiert wurden, auch in Deutschland, etwa sein Essay über Die verschwundene Bibliothek von Alexandria, seine Auslassungen über den antiken Historiker Thukydides, seine Biografie Cäsar, der demokratische Diktator) - seine Thesen zum "falschen Gegensatz von ,Demokratie versus Diktatur'" sind ungleich beunruhigender beziehungsweise auch produktiver, weil sie ganze Traditionen westlicher, europäischer Geschichtsbilder hinterfragen. Man versuchte ihm also methodisch am Zeug zu flicken: Das Buch sei höchst schematisch in der Darstellung einzelner historischer Epochen, es beschönige etwa den Stalinismus und vereinfache auf unzulässige Art, wenn Canfora behaupte, die liberalen Demokratien des Westens hätten die Katastrophe des 20. Jahrhunderts wesentlich mitverursacht. Kurz und überhaupt: Es sei ein "pures kommunistisches" Pamphlet.
Obwohl La Democrazia. Storia di un'ideologia (so der Originaltitel) durchaus akklamiert bereits in Italien und England erschienen war, zog der Verlag C. H. Beck, ermutigt vom Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler, die geplante Veröffentlichung zurück. Der kleine - und wie in Deutschland niemand zu erwähnen vergaß - "linke" Verlag PapyRossa sprang schließlich in die Bresche und korrigierte eine tatsächlich mangel- und fehlerhafte Übersetzung, um Luciano Canforas Ruf zu retten.
Wer das Buch nun liest, kann in der Tat nichts von der dem Autor unterstellten "altkommunistischen" "Stümperei" finden. Im Gegenteil: Einmal mehr erweist sich Canfora in atemberaubenden Lektüren alter und ältester Texte (Herodot, Tocqueville, Constant) als ebenbürtiger Zeitgenosse des großen italienischen Philologen und Essayisten Roberto Calasso. Die Leichtigkeit, mit der er seine widerständischen Beobachtungen eines Lesers von Geschichte und Geschichten formuliert, erinnert an die Freibeuterschriften eines Pier Paolo Pasolini. Und der ist ja heute auch schon wieder für viele zu links.
"Aristoteles ging den Dingen am tiefsten auf den Grund, als er den Begriff der Demokratie von der Vorstellung der einfachen numerischen Mehrheit befreite." Auch in alten sokratischen Dialogen legt Luciano Canfora frei, dass viele Grundsatzdiskussionen, die heute oft ins Leere und in die Irre führen, seit jeher (und oft besser dokumentiert als heute) am Laufen sind: "Euripides' Schutzflehende (entstanden vermutlich 424) enthalten eine ungewöhnliche Debatte zwischen König Theseus, der athenischen Legende zufolge Begründer der Demokratie, und einem thebanischen Herold, der ihn mit der Frage herausfordert: 'Wer ist hier der Tyrann?', womit er ungefähr sagen will: Wer gebietet hier? Daraus entspinnt sich ein vollendeter Dialog zwischen Schwerhörigen: Theseus beschreibt die Vorzüge der Herrschaftsform, in der ,das Volk gebietet'; der Herold verweist auf das unbestrittene Problem der ,Inkompetenz' des Volkes. Auch bei Euripides endet die Diskussion ohne Sieger und Besiegten."