Marianne Kohler-Schneider rekonstruiert mittels Natur vergangene Kultur.

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Der verkohlte Traubenkern in einem keltischen Heiligtum am Sandberg bei Roseldorf war etwa so einfach aufzustöbern, wie die Nadel im Heuhaufen. Gefunden hat ihn das Archäobotanik-Team um Marianne Kohler-Schneider, spezialisiert auf die Bestimmung von Pflanzenresten aus längst vergangenen Epochen. Archäobotaniker nehmen an Grabungen teil und ziehen aus alten Pflanzenresten wie Samen oder Blätter Rückschlüsse auf das prähistorische bäuerliche Alltagsleben und das Aussehen der Landschaft.

Ihre Kenntnisse helfen, alte Wirtschaftssysteme zu modellieren und die Größe von Siedlungen zu rekonstruieren. Das vorliegende Kern könnte ein Beweis für Weinbau im Weinviertel bereits im dritten Jahrhundert vor unserer Zeit sein. Oder aber Beleg für den frühen Import kostbarer Rosinen aus dem Mittelmeerraum als Opfergabe. Um das zu klären, sucht das Team noch nach Traubenkernen in den Wohnhäusern.

Die Botanikerin steigt selbst in die Grube, denn meistens seien die Funde "mit freiem Auge nicht sichtbar: winzig, schwarz verkohlt und mit Erde vermischt. Ich nehme also Blindproben, wobei es auf systematisches Vorgehen und Erfahrung ankommt." Ebenso wichtig in ihrem Job sei "Fingerspitzengefühl, viel Geduld und ein gutes Auge für feinste Unterschiede". Gefundene Pflanzenreste werden vorsichtig aus dem Erdmaterial geschwemmt, unter dem Mikroskop aussortiert und schließlich statistisch ausgewertet und interpretiert. Oft sind auch Verkohlungsexperimente hilfreich, weil sich die Samen unter Hitzeeinfluss verändern: "Popcorn hat mit Mais ja auch nur noch wenig gemeinsam."

Schon als Kind war die Wienerin von der pflanzlichen Formenvielfalt fasziniert und den "Berührungspunkten von Natur und Kultur" in Form alter Bauerndörfer und Kellergassen des Weinviertels. Nach ihrem Doktorat in Biologie stieß sie in der Archäobotanik "auf die Verbindung aller meiner Leidenschaften". Das Handwerk lernte sie am renommierten Institute of Archaeology in London. Zurück in der Heimat baute sie seit 1989 beharrlich den Forschungszweig "Archäobotanik und Kulturpflanzengeschichte" an der Uni für Bodenkultur auf. In ihrer Freizeit streift Marianne Kohler-Schneider mit ihrem Mann durch das Wald- und Weinviertel, liest Lyrik sowie russische Literatur.

An ihrer Arbeit schätzt die Forscherin den "Blick in eine fremde Vergangenheit, die uns ein besseres Verständnis der Gegenwart bietet. Neben strenger Wissenschaftlichkeit braucht das viel Vorstellungskraft". Der Vision eines Jurassic Park erteilt die 45-Jährige indes eine Abfuhr: "Die Mehrzahl der Samen bleibt höchstens einige Jahrzehnte keimfähig". Im dritten vorchristlichen Jahrhundert war Ostösterreich schon durch intensive Holznutzung und Ackerbau keine Wildnis mehr. Dafür wurden in der Spätbronzezeit satte neun, statt heute fünf Getreidearten angebaut. Entferntere Epochen findet sie am spannendsten, die Funddichte wird aber geringer, je weiter man zurückgeht: "Bei mehr als 7000 Jahre alten ackerbaulichen Siedlungen muss man zehntausende Liter Erdmaterial durchsuchen, um zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen. Ab der Bronzezeit wird es ergiebiger, und ein eisenzeitlicher Fundplatz wie Roseldorf bietet vielfältige Auswertungsmöglichkeiten." (Astrid Kuffner/D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 17.1. 2007)