Sexforscherin Elia Bragagna: "Dauerstress im Beruf, Angst um den Arbeitsplatz, belastende Konflikte sowohl im Beruf als auch im Privatleben können häufig Lustlosigkeit auslösen."
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Wien – Etwa 30 Prozent aller Frauen haben sexuelle Probleme, ein Großteil bereits in jungen Jahren. Die meisten der Betroffenen leiden jedoch still, vertrauen sich niemandem an. Weniger als zehn Prozent der Frauen mit sexuellen Funktionsstörungen erhalten adäquate Therapien, was sich in allen Lebensbereichen negativ auswirkt.

Diese Daten wurden beim Wiener Kongress der europäischen SexualmedizinerInnen präsentiert.

Vizepräsidentin Elia Bragagna betonte, eines der größten Problem sei Lustlosigkeit, die in vielen Fällen jedoch keine organische Ursachen habe. Oft seien es psychische Gründe, äußere Faktoren wie Stress oder Arzneien, vor allem Schmerzmittel und Antidepressiva, die sich negativ auswirkten. Daneben spielten auch chronische Erkrankungen eine Rolle.

Zum Abschluss des Kongresses fand am 6. Dezember im Wiener Rathaus der 1. Europäische Tag der Gesundheit und Sexualität statt, bei dem Interessierten umfangreiche Informationen geboten wurden.

Wien – Vorbei die Zeiten, in denen das männliche Geschlecht die Fachkongresse der SexualmedizinerInnen dominierte. Nachdem Viagra im Jahr 1998 auf den Markt kam und mit ihm die Erektile Dysfunktion, die ED, Gewinn bringend zur neuen weltweiten Männerkrankheit ausgerufen wurde, stürzen sich neben Ärzten und Ärztinnen nun zunehmend auch Pharmafirmen auf das Sexleben von Frauen. Dieses steht also auch im Mittelpunkt des bis am Mittwoch in der Wiener Hofburg stattfindenden Kongresses der Europäischen Gesellschaft für Sexualmedizin.

Kulturgeschichtlich scherte sich die männlich dominierte Welt zunächst einen Dreck um weibliche Höhepunkte. Nach der sexuellen Aufklärung hatte die Frau endlich einen Orgasmus, nach der Revolution sogar multiple, heute jedoch hat sie, glaubt man Studienergebnissen, keinen mehr. Dafür hat sie, wie auch der Mann, Akronyme für mögliche Gründe dafür: FSD, FSAD und HSDD – die weiblichen sexuellen Funktionsstörungen: Female Sexual Dysfunction, die weibliche sexuelle Dysfunktion, Female Sexual Arousal Disorder, die weibliche Erregungsstörung, und Hypoactive Sexual Desire Disorder, der verminderte sexuelle Antrieb.

Diesbezügliche Daten sind – je nach Auftraggeber entsprechender Studien – sehr unterschiedlich. US-Studien attestieren gut 40 Prozent der Frauen eine sexuelle Dysfunktion, deutsche Studien kommen auf 60 Prozent sexuelle Störungen, andere suggerieren sogar, dass 90 Prozent ihren Partnern mindestens einmal einen Orgasmus vorgetäuscht haben, nur mit der Hälfte ihrer Partner überhaupt einen hatten.

30 Prozent betroffen

Die Mehrheit der Untersuchungen kommt jedoch zum Schluss, dass so um die 30 Prozent der Frauen sexuelle Probleme haben. Die am Kongress präsentierten Details: Mit 32 Prozent zeigen 18- bis 24-jährige Frauen am häufigsten Zeichen von Libidoverlust. Über Orgasmusstörungen klagen 28 Prozent der 18- bis 24-jährigen Frauen, 28 Prozent der 25- bis 34-Jährigen und 23 Prozent der 45- bis 59-jährigen.

Aber steckt dahinter gleich eine Krankheit? Sind Frauen, deren Sexleben bisher vielleicht nicht sonderlich aufregend, aber ansonsten okay ist, noch normal oder bereits gestört? Anders als beim Mann, bei dem beispielsweise Erektile Dysfunktion zu einem Großteil physisch bedingt und daher auch medikamentös zu behandeln ist, seien es bei Frauen primär psychische Gründe, betonte Elia Bragagna, Ärztin, Sexualtherapeutin und Kongressvizepräsidentin: "Dauerstress im Beruf, Angst um den Arbeitsplatz, belastende Konflikte sowohl im Beruf als auch im Privatleben können häufig Lustlosigkeit auslösen." Hinzu komme noch der Stress, dem Frauen durch ein nicht zuletzt von den Medien transportiertes Rollenbild ausgesetzt seien: Frauen müssten stets funktionieren – im Beruf, im Haushalt, im Bett.

Daher sind die erfolgreichsten Behandlungen sexueller Probleme bei Frauen auch Psycho- und Paartherapien. Allerdings, schränkt Bragagna, Leiterin der Sexualambulanz im Wiener Wilhelminenspital, ein, die wenigstens der Betroffenen fänden den Mut, darüber zu reden – mit ihrem Partner und mit einem Sexualtherapeuten. Und auch die entsprechende Ausbildung von Medizinern ließe zu wünschen übrig: "Unser Studium räumt dem Problem kaum Platz ein."

Sexueller Anreiz fehlt

Eine niederländische Studie ergänzt, dass mangelnde Lust ganz einfach auch damit zusammenhängen kann, dass entsprechende Anreize fehlen. Lust entsteht also bei Frauen – im Gegensatz zu den meisten Männern – nicht zwischen den Beinen, sondern zwischen den Ohren. Aus diesem Grund konzentrieren sich einige Pharmafirmen auf die Suche nach entscheidenden Neurotransmittern.

Das Gehirn könnte US-Studien zufolge nämlich drei Antriebe entwickelt haben, sich zu paaren: Lust (die sexuelle Belohnung), romantische Liebe und Bindung, das Gefühl einer sicheren Einheit mit dem Langzeitpartner. Jeder dieser Triebe verlaufe über eine andere Bahn im Hirn, und jede dieser Bahnen sei mit anderen neurochemischen Substanzen gepflastert. Lust habe vor allem mit Testosteron zu tun, romantische Liebe hänge mit Dopamin, Norepinephrin und Serotonin zusammen, und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit werde durch die Hormone Oxytocin und Vasopressin begünstigt. Noch ist aber eine Neuro-Libidopille für die Frau nicht in Aussicht.

Neben psychischen können freilich auch physische Ursachen zu sexuellen Problemen führen: Chronische Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Probleme, Nierenleiden, Leberschäden, Alkoholismus, Rauchen, Schilddrüsenunterfunktion und gestörter Hormonhaushalt. Und auch Depressionen.

Ein weiteres Problem ist die Dyspareunie, der schmerzhafte Geschlechtsverkehr. Ursachen dafür sind – wenn nicht psychisch bedingt, also trotz vorhandener Lust und genügender Erregung – meist Infektionen oder eine verwundbare Schleimhaut wegen Östrogenmangels. Da helfen Arzneien. (Andreas Feiertag/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6.12. 2006)