Die Möwen als Platzhirsche. Nach Het Zwijn kommen im Winter höchstens Regenpfeifer und Belgier.

Foto: Toerisme Vlaanderen
Tage lang jagt manchmal der Sturm das Wasser der Nordsee über den Strand von Knokke gegen den Zeedijk, den Deich. Dann flaniert auf seiner Krone kein Badepublikum. Die Gäste sitzen in den kleinen Cafés, Bistros oder Restaurants, die im Winter geöffnet sind, trinken rotes Krieckbier oder schwarzen Kaffee, knabbern kleine Spekulatius dazu und schauen hinaus aufs Meer, wo sich die großen weißen Fährschiffe von England her den Weg nach Oostende, Zeebrügge oder Vlissingen durch die aufgewühlten Wellen suchen.

Weiße Gischtfetzen wirbeln mitunter durch die Luft, wenn eine besonders starke Welle über den leeren Strand herangetrieben wird, wo ihr jetzt keine Strandhäuschen den Weg versperren. Manchmal kann man nicht erkennen, ob es nicht Möwen sind, die dem Sturm da draußen trotzen. Doch sobald der Sturm abflaut, kommen die Unentwegten nach draußen. Mit Gummistiefeln und hoch gerollten Hosenbeinen, in dicke Jacken gehüllt und mit Mützen, die tief in die Stirn gezogen sind, versuchen sie, dem immer noch steifen Wind standzuhalten, von ihm nicht einfach über den Deich geschoben zu werden.

Luftkur mit Peeling

Dass man an eine Küste, wie die belgische, 67 Kilometer lang zwischen De Panne im Westen und Knokke im Osten, nur im Sommer des Badens wegen reist, ist gängige Meinung, die jedoch längst nicht mehr stimmt. Man weiß heute um den gesundheitlichen Wert der Seeluft, die im Winter besonders intensiv zu spüren ist, weiß um die wohltuende Wirkung von Strandwanderungen bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit. Und wer einmal gegen den Wind am Strand entlang spaziert ist und gefühlt hat, wie Millionen feinster Sandkörnchen gegen die Haut geprasselt sind, weiß, dass kein Schneesturm oder modisches Peeling solche Wirkung entfalten kann.

Die 15 Orte an der belgischen Küste gelten im Sommer als bevorzugte Ziele für Familien mit Kindern, ganz gleich ob das kleine Badeorte sind wie Oostduinkerke oder der Nobelort Knokke. Jetzt im Winter ist das natürlich anders. In dieser Jahreszeit, wenn die Wolken oft dick und schwarz draußen über der Nordsee hängen, sind es vor allem Paare, die die Deiche bevölkern, auf der Kilometer weit ins Meer hinausführenden Mole von Blankenberge dem Wetter trotzen. Oder nahezu endlos durch die bezeichnenderweise "Sahara" genannte Dünenlandschaft von De Panne wandern, reiten oder radeln.

Andere sitzen an geschützten Stellen in der Wintersonne und schauen hinaus auf das Meer, wo zwischen der Scheldemündung und dem Ärmelkanal der permanente Schiffsverkehr zu beobachten ist. Oder die berühmten Strandwagen, die von prall gefüllten Segeln über den Sand getrieben werden. Mag der weitläufige Strand von De Panne, der sich über die Grenze bis Dünkirchen in Frankreich hinzieht, noch so sehr das Ziel Schaulustiger sein, die Königin der belgischen Badeorte ist sommers wie im Winter das lang gezogene Knokke.

Ein Seebad wie Knokke schläft auch im Winter nicht. Vor allem am Wochenende drängen sich die Besucher, jene aus dem nahen Brüssel ebenso wie die aus den Niederlanden oder die deutschen. Vor allem in Knokkes Nobelquartier, in Het Zoute, reihen sich gleich hinter dem Deich die elegantesten Boutiquen und erlesensten Galerien Belgiens aneinander. Sie lassen erkennen, welcher Art das Publikum ist, das sich während des ganzen Jahres in Knokke trifft. Die Namen der Geschäfte und Boutiquen, der Confiserien, Juweliere und Galerien sind die gleichen, die die besten Geschäftsstraßen in Paris und Zürich, in Mailand, Düsseldorf und natürlich Brüssel säumen.

Schwitzen im Casino

Zu den beliebtesten Treffpunkten Knokkes im Winter gehören nicht nur die infrarotbeheizten Terrassen mit Seeblick bei "Pierrots" oder "Charlys" am Albertplein, sondern vor allem das Casino. Natürlich sucht man hier belgischer Lässigkeit entsprechend bei den Damen vergeblich die große Abendgarderobe und den kostbaren Schmuck und bei den Herren den eleganten Abendanzug. Bei Black Jack und Roulette herrscht trotz der Spannung paradoxerweise entspannte und heimelige Atmosphäre. Dieses Casino von Oostende, das bedeutendste hier an der Küste, ist jedoch nicht nur ein Tempel des Glücksspiels, sondern gerade im Winter auch immer wieder Bühne für exklusive kulturelle Veranstaltungen. Sehenswürdigkeiten bringt ein kurzer Blick nach oben: Der runde Spielsaal des Hauses ist mit einem 72 Meter langen Fresko des Malers René Magritte geschmückt. Und der eigens für dieses Haus in Murano gefertigte Leuchter gilt als der größte der Welt. So jedenfalls verzeichnet ihn das Guiness Buch der Rekorde.

Knokke - wie überhaupt die belgischen Küstenorte - würde nicht in Flandern liegen, dieser Landschaft des guten Speisens und Trinkens, könnte man sich hier nicht in zahlreichen Häusern erlesenen Tafelfreuden hingeben. Verständlicherweise liegt der Schwerpunkt des hier Gebotenen bei all dem, was aus dem Meer kommt. Steaks und Pommes frites serviere man nicht an der Küste, hat einmal eine engagierte Küchenchefin aus Knokke kategorisch erklärt. Sie mag Recht haben.

Der belgischen Küste exklusivstes Winterquartier allerdings liegt etwas abseits der übrigen. Und dabei handelt es sich weder um die komfortablen Villen noch um die luxuriösen Appartmenthäuser in Het Zoute, De Haan oder De Panne. Die Rede ist von Het Zwijn. Hierher kommen die Wintergäste aus dem hohen Norden, aus Spitzbergen, aus Sibirien oder doch wenigstens aus Nordschweden. Brandgänse, Sichelschnäbler, Kraniche, Regenpfeifer und noch rund hundert andere Zugvögel verbringen in Belgiens interessantestem Vogelschutzgebiet Wochen, Monate oder manchmal den ganzen Winter.

Het Zwijn war einmal eine Meeresbucht der Nordsee, die längst versandet ist. Heute bildet sie eine Landschaft von Dünen, Lagunen und Salzwiesen zwischen dem belgischen Knokke und dem niederländischen Sluis, eine an der Nordsee einzigartige Landschaft, die zum Teil regelmäßig im Takt der Gezeiten überflutet wird. Het Zwijn ist eine der stillen, aber wirklich großen Attraktionen an der belgischen Küste im Winter, kann man doch nirgends sonst so viele und zum Teil so seltene Wildvogelarten so nahe beieinander sehen. (Christoph Wendt/Der Standard/Printausgabe/02./03.12.2006)