Ob in der "Proletenpassion" oder in der Trilogie "Die Republik des Vergessens": Heinz R. Ungers Texte machten es der Republik etwas schwerer, sich in satter Selbstzufriedenheit einzurichten.

Foto: J. Christandl
Wien - "Gemessen an unseren Belanglosigkeiten agieren wir wie Unsterbliche." Dieses Motto hat Heinz R. Unger seinem Griechenlandroman Karneval der Götter (2001) vorangestellt und damit doch eine Sicht nahe gelegt, die nicht so recht ihm zu passen scheint, da er in seinen aggressiven Liedtexten doch mit einem ganz anderen Inventar arbeitete als mit olympischen Göttern, die sich aus dieser Welt mit guten Gründen zurückgezogen haben.

Die Proletenpassion hat ihn bekannt gemacht, seine Dramen haben in den Achtzigerjahren das Bühnengeschehen nicht nur in Wien belebt: Spartakus. Lyrische Agitation gegen die Mentalität der Sozialpartnerschaft (1973) trägt im Titel ein Kontrastprogramm zur Atmosphäre der Siebzigerjahre, als sich die Alpenrepublik in einem Selbstverständnis einzurichten begann, gegen das kaum Gegenstimmen laut wurden, da es vom Ausland nicht nur abgesegnet, sondern auch heftig akklamiert wurde.

Es war eine gute Zeit für Liedermacher, deren Produkte als die legitime Nachfolge der traditionellen Lyrik galten; auch wenn die Lyrik wieder ihren festen Platz hat, so würde man sich nicht selten wünschen, dass diese kräftigen Texte wieder Einzug hielten in das Bewusstsein jener, die derzeit unter den unterschiedlichen Reformdevisen antreten.

Im 2. Faschismuslied des Geschichtslehrers heißt es: "Hitler war ein böser Mann/doch baute er die Autobahn./Dracula und Frankenstein/sind daneben lieb und klein.// Und wer war einst ein Hitlerpimpf/dann gilt das heute nicht mehr als Schimpf/im Gegenteil, bei einer Wahl/gewinnt er Stimmen - national." So konnte man bei Unger schon 1971 lesen, und die Spitze gegen jene ehemaligen Mitglieder der NSDAP, die in der Sozialdemokratie Karriere gemacht hatten, war unverkennbar.

Doch sollte man Ungers Werk nicht auf diese wirkungsmächtigen politischen und zeitkritischen Invektiven beschränken. Er hat auf unverwechselbare Weise die österreichische Geschichte kommentiert. Die ersten beiden Teile seiner Trilogie Die Republik des Vergessens - Unten durch (1980) und Zwölfeläuten (1985) - waren fertiggestellt, ehe die Kandidatur Waldheims für weltweites Aufsehen sorgte. Der dritte Teil Hoch hinaus wurde 1987 aufgeführt.

Kritische Festspiele

Alle drei Texte drehen sich um das Jahr 1945, um das Ende der Naziherrschaft und die Anfänge der Zweiten Republik - als kritische Festspiele für die Jubiläen bestens geeignet. Unger verschmäht Schwankhaftes nicht, doch wäre es eine krasse Verfehlung jeder Regie, die Stücke darauf zu reduzieren. In angemessener Dosierung und stilsicherer Kombination treten komische und tragische Momente auf, so in Zwölfeläuten, das mit der Wahnsinnstat Sturmbannführers Kroll endet.

Sollen das alles "Belanglosigkeiten" sein, die wir mit dem Pathos der Unsterblichen zu übermalen suchen? Unger hat sich in allen Gattungen bewährt, als Lyriker, als Dramatiker und in der letzten Zeit vor allem als Erzähler. Er kann auch zwischen den Genres wechseln; so ist Zwölfeläuten zur Erzählung umgeschrieben worden, die ihre Spannung nicht zuletzt der dramatischen Intensität der einzelnen Szenen verdankt.

Immer deutlicher wird von Werk zu Werk, dass es trotz der zeitkritischen Brisanz um Konstanten im menschlichen Verhalten geht, die nicht nur als typisch österreichisch gelten können. Immer deutlicher wird die Technik Ungers, auf der sehr konkreten historischen Folie Typen des Handelns und vor allem Nichthandelns zu entwickeln.

Am besten ist ihm dies in dem Roman Löwenslauf (2005) gelungen. Dessen Protagonist ist der österreichische Jude Lapinski, der während des Krieges in Frankreich die Identität eines dort verstorbenen Polen annahm. Er kehrt unmittelbar nach Kriegsende nach Wien zurück; er wird von dem Polizisten Fuchs beschattet, der hinter das Lebensrätsel dieses Mannes kommen möchte. Lapinski, das ist der Löwe, der "alte Löwe, der nicht mehr jagen kann, dem Zähne und Mähne ausgefallen sind". Eine höchst komplexe Handlung, die in den Dreißigerjahren einsetzt und bis in unsere Gegenwart führt. Eine sanfte Ironie bestimmt den Erzählduktus, dem auch burleske Züge nicht fremd sind. Der Blick auf die Tierwelt schärft den Blick für die Menschen: Fuchs und Löwe; bei Lapinski mag man aber auch an das französische Lapin (Hase) denken.

Auch dieses Buch ist ein Buch gegen das Vergessen. Das Vergessen ist auch Thema in dem Gedicht Gärten des Vergessens im letzten Lyrikband des Autors In der verkehrten Welt (2006): "Frag mich nicht, was morgen sein wird,/denn der Stern, der eben strahlte,/Ist im Falle schon erloschen/in den Gärten des Vergessens." Es ist zu hoffen, dass Unger nicht resigniert angesichts solcher Einsichten und so handelt, als wäre er ein Unsterblicher. (Wendelin Schmidt-Dengler/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29. 11. 2006)