Richard Powers:
"Das Echo der Erinnerung."
Roman. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. ¬ 20,50/533 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/M. 2006.

Buchcover: S. Fischer
Literatur als Kraftakt. Vielleicht hängt es ja mit dem Namen zusammen, aber kaum jemand sonst stellt sich derart schwierige Schreibaufgaben wie Richard Powers. Der US-Romancier zählt zu den ganz wenigen Vertretern seiner Zunft heute, die noch nach so etwas wie Universalität streben.

Die winzigen Splitter unserer Erfahrung mit der Lupe auflesen und mit noch größerer Akribie zu einem Ganzen zusammensetzen, das unser Welterleben ansatzweise zu erklären im Stande wäre: Es ist eine in heutigen Zeiten absurd anmutende Übung, die schon vor hundert Jahren vom Stundenplan der Weltliteratur gestrichen wurde, aber Powers hat sie sich in Romanen wie zuletzt Der Klang der Zeit zum Spezialgebiet gemacht. Hier setzt auch Das Echo der Erinnerung an, für den der 49-Jährige kürzlich mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde. Der Roman fokussiert auf das menschliche Gehirn und die Zerbrechlichkeit des Bewusstseins - und verlangt dem Leser streckenweise einiges an Hirnaktivität ab. Ein gesundes Halbwissen in Neurologie kann ebenfalls nicht schaden, wird ansonsten aber auch von Professor Powers im Laufe des Buches vermittelt.

Die Handlung konzentriert sich auf Kearney, eine Kleinstadt in Nebraska, die den geografischen Mittelpunkt der USA darstellt und gleichzeitig die sprichwörtliche Mitte von Nirgendwo. Es ist ein trostloser Flecken, an dem es mehr religiöse Gruppen als Einwohner zu geben scheint. Nur zwei Monate pro Jahr erwacht Kearney aus seinem Tiefschlaf, wenn tausende Kraniche gewohnheitsmäßig am Fluss Station machen und das Naturschauspiel einen Schwarm von Touristen anzieht.

Karin Schluter wollte diesen Ort für immer hinter sich lassen. Nun wird sie zurückgerufen. Ihr kleiner Bruder Mark hatte mit seinem Truck einen schweren Unfall und liegt im Koma. Er überlebt und scheint sich nach einem komplizierten operativen Eingriff auch langsam zu erholen. Allerdings nimmt er seine Umgebung anders wahr - besonders seine Schwester, die er nicht mehr erkennen will. Mark leidet unter dem seltenen Capgras-Syndrom: Menschen, die ihm besonders nahe stehen, nimmt er als Fälschungen wahr. Karin hält er für eine Nachbildung, für eine bösartige Doppelgängerin seiner Schwester. Obwohl sie sich aufopfernd um ihn kümmert und schließlich auch ihren Beruf aufgibt, um bei ihm zu sein, akzeptiert er sie nicht. Ähnlich gestaltet es sich, wie sich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zeigt, mit seinem Hund und sogar mit seinem kleinen Häuschen: Die Welt ist für ihn nicht mehr die, die sie einmal war.

Mehr Zutrauen entwickelt Mark zu Menschen, die er nach seinem Unfall kennen lernt. Schnell freundet er sich mit der Hilfsschwester Barbara an, die nicht nur besonders liebevoll, sondern auch erstaunlich belesen ist. Auch Dr. Webber, einem berühmten Neurologen und Autor populärwissenschaftlicher Bestseller, der als sein "Sigmund" den Fall untersucht, schließt er ins Herz. Mark macht sie zu Verbündeten bei seiner Suche nach der Lösung jenes Rätsels, das für ihn alles aufklären würde: Wer war der geheimnisvolle Fremde, der in der Unfallnacht bei ihm war und ihn gerettet hat?

Als Bindeglied zwischen den Handlungssträngen dient ein Zettel, der kurz nach dem Unfall in Marks Spitalszimmer auftaucht, ohne dass er sich einem Besucher zuordnen lassen würde. In krakeliger Handschrift steht darauf geschrieben: "Ich bin Niemand aber Heute Nacht auf der North Line Road Führte GOTT mich zu dir damit Du Leben kannst und jemand anderen zurückholen."

An diese Worte knüpfen sich Marks Hoffnungen. Parallel dazu legt er sich immer aufwändigere Erklärungsversuche und Verschwörungstheorien für sein Leiden zurecht und verdächtigt fast jeden in seiner Umgebung, eingeweihter Teil einer gigantischen "Truman Show" um ihn zu sein. Derweil versucht die verstoßene Schwester, langsam wieder Anschluss ans normale Leben zu finden. Wie schon vor ihrem Weggang aus Kearney steht sie jedoch vor dem Problem, es allen recht machen zu wollen und sich nicht zwischen zwei Männern und deren einander diametral gegenüberstehenden Interessen entscheiden zu können: einem furchtbar selbstlosen Umweltschützer und Tofufreak und einem charmanten Schlitzohr und Geschäftemacher.

Schließlich gerät auch Dr. Webber, gewissermaßen die dritte Hauptfigur des Romans, erstmalig in seinem makellos erscheinenden Leben ins Schleudern. Die Kritik schießt sich auf sein jüngstes Buch ein, bezichtigt ihn, die von ihm beschriebenen Patienten nur für seinen Ruhm auszubeuten. Während Mark und Karin peinlich darum bemüht sind, die Einzelteile ihres Lebens wieder zusammenzufügen, setzt bei Webber ein Auflösungsprozess ein.

Das Echo der Erinnerung behandelt Grundfragen des Menschseins von verschiedenen Seiten. Es lässt sich als neurologisch geschulter Versuch lesen, die alte Frage "Wer bin ich?" mit den neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung zu beantworten. Nie jedoch gerät Powers sein Stoff zu einer trockenen Fallstudie, da sind sein unglaublich hellhöriges Erzählen und sein gleichsam philosophisches Interesse am Menschen und dessen nicht umzubringender Wille, sich einen Reim auf die Dinge zu machen.

Dieser Roman erobert sich von den Wissenschaften Terrain zurück, ohne deren Fortschritte infrage zu stellen. Gleichzeitig hat er ihnen gegenüber einen sympathisch machenden Vorteil: Er leugnet seine Befangenheit und seine blinden Flecken nicht. (Sebastian Fasthuber/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.11.2006)