Ein Spaziergang wie ein Traum: Marc Chagall, 1917/18.

Foto: VBK, Wien, 2006
Die 100 Exponate mächtige Schau versammelt Leihgaben aus den wesentlichen Sammlungen zwischen St. Petersburg, Moskau und New York.


Wien - Nun ist es auch schon wieder zwei Jahre her, dass die Albertina mit Marc Chagall den Advent begangen hat, und also vergessen. Und also war es höchst an der Zeit, erneut darauf hinzuweisen, dass es Chagall gab. Marc Chagall, der 1887 im jüdischen Getto der weißrussischen Stadt Witebsk geboren wurde und 1985 im französischen St. Paul de Vence von uns gegangen ist.

Dazwischen liegt ein Leben, das Kunstgeschichte geschrieben und ein Postkartenreich initiiert hat, das wie kein anderes imstande war, die Aussöhnung zwischen der stets behaupteten Volksnähe der Avantgarden und ihren real existierenden Adressaten zu stützen.

Bis heute lässt sich in jede "Diskussion" über Sinn und Unsinn aller gemeinhin als "moderne Kunst" geläufigen Produkte der auch schon wieder weit mehr als letzten hundert Jahre "Chagall" höchst friedensstiftend einbringen. So ein Chagall berührt eben, und daran hat sich auch jetzt rein überhaupt nichts geändert. Und da eines der Geheimnisse des Friedens darin besteht, dass möglichst viele mittun, kann man jetzt dem BA-CA-Kunstforum keinen Vorwurf daraus machen, zu hoffen, dass möglichst viele hingehen. Schließlich heißt die Ausstellung auch Meisterwerke, und was kann man schon mehr wollen? 1908-1922 heißt sie noch, aber das dient bloß als Fußnote für die eingebildeteren unter den prospektiven Empfängern. Wichtig ist, dass "mehr als 100 Werke des wohl berühmtesten Exoten der Kunstgeschichte" ihren Weg nach Wien gefunden haben.

Selbstverständlich haben daran die bedeutendsten unter den infrage kommenden Leihgebern mitgewirkt: Die Moskauer Tretjakow-Galerie hat sich von selten gezeigten Bildern getrennt, das staatliche Museum in St. Petersburg entzweit sich vorübergehend von seiner ganzen Chagall-Sammlung, das Guggenheim wie das Museum of Modern Art in New York haben mitgewirkt, das Musée National d'Art Moderne in Paris ebenso wie das Centre Georges Pompidou.

Frühe Meisterschaft

Versteht man unter "exotisch" einen hoch forcierten Wiedererkennungswert, dann lässt sich bedenkenlos behaupten, dass mit den dargebrachten Meisterwerken aus dem Frühwerk des Meisters der ganze Chagall repräsentiert ist. Alles Typische ist vertreten, sämtliche Motive - die grüne Kuh, der stets fruchtbare Hahn, der den Lebensmittelpunkt markierende Geiger, die die Zeit und sicher auch die Amplituden des Schicksals symbolisierende Pendeluhr - sind allesamt im Frühwerk angelegt. Und auch der mild unorthodoxe Bildaufbau und die bemerkenswerte Farbgebung lassen alle späteren denn die im Kunstforum gezeigten Meisterwerke als Variationen erscheinen. Man findet hier all das berührend Magische, die kaum verdeckten Verweise auf die Plakat- und Schildermaler der russischen Provinz, das Bekenntnis zum Naiven ebenso wie das uneingeschränkte Vertrauen in die Fabulierkunst. Und nicht zuletzt wird verständlich, warum es auch in Marc Chagalls Privatleben zum Bruch mit Kasimir Malewitsch kommen musste: Ein Marc Chagall wollte sich die Zukunft absolut nicht als schwarzes Quadrat ausmalen, der sentimentalische Blick zurück war ihm da bedeutend näher. Wie es einmal war, wurde er schon im Frühwerk nicht müde, detailreich auszumalen - und nährte damit die Hoffnung, dass es durchaus wieder einmal so voller Geborgenheit werden könnte. Dem Zeitgeist, den damals Paris bestimmte, nicht unaufgeschlossen, brach er seine Erzählungen in einem Kaleidoskop mit leicht gegeneinander versetzten Spiegeln.

Das ergab immerhin einen kubistischen Effekt, der sich ebenso als Traumsequenz deuten lässt oder, wie das Kunstforum betont, die ihm eigene "poetische Sensibilität". Den programmierten Höhepunkt der Ausstellung bilden lange verschollen geglaubte Leinwände, die Marc Chagall 1920 für das jüdische Theater in Moskau als Hintergrunddekorationen für die Bühnenwand angelegt hat. (Markus Mittringer/ DER STANDARD, Printausgabe, 15.11.2006)