Juri Andruchowytsch:
"Moscoviada".
Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.
23,50 EUR/226 Seiten. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2006.

Buchcover: Suhrkamp
Umwälzende Perioden in Russlands Geschichte, so etwa der Zerfall des sowjetischen "Imperiums" im Gefolge von Glasnot und Perestrojka, rufen verlässlich die Entschleunigungskräfte der satirischen Literatur auf den Plan: Was denn, fragt der westukrainische Starautor Juri Andruchowytsch, hat sich mit der doch nur erzwungenen Preisgabe der Doktrin von der sozialistischen "Völkerverständigung" tatsächlich geändert - wenn man zum Beispiel die verheerenden Regionalkriege in den Grenzregionen im Auge behält? Worin unterscheidet sich die schleichende Aushöhlung der Demokratie unter "Zar" Putin von jener russischen Zentralmachtsideologie, die seit Peter dem Großen die Vorrangigkeit staatsautoritärer Strukturen vor jeder Selbstbestimmung proklamiert?

Die Kommentierung solcher Fragen durch die satirische Avantgarde scheint auf den ersten Blick verblüffend. Denn diese projiziert das Chaos an den Rändern der Einfachheit halber zurück auf die mythologische Mitte, auf den Moloch, den großstädtischen Leviathan: auf das Moskau der (Anfang der 90er-Jahre) in die Freiheit, in das ökonomische Elend entlassenen "werktätigen Massen". In deren grauem, streng nach Wodka und Urin riechendem Einerlei schnappen versprengte Kulturschaffende nach Luft. Otto von F., der Held in Andruchowytschs 1993 erstmals publiziertem Roman, wohnt in einem baufälligen Hochhaus des "Gorki-Instituts", wo er sich als strammer ukrainischer Patriot zwar mit Plänen zur Abfassung eines Versepos trägt, ansonsten aber von liederlichen Besäufnissen sowie der lässlichen Anbahnung erotischer Abenteuer existenziell vollauf in Anspruch genommen wird.

Ottos "Biotop" nimmt sich denn auch aus wie ein erzwungenes Stelldichein aller möglichen Volksgruppenvertreter. Unser tumber Held, der davon träumt, von einem neu zu inthronisierenden ukrainischen Großfürsten finanziell ausgehalten zu werden, giert - so er nicht bloß sinnlos betrunken ist - nach einer wundersamen Mutation der ganzen sowjetischen Hinterlassenschaft. Aus "Neppokaffsk, Nullopensk, Leninoscheissk" kann und soll nichts Ersprießliches werden.

Andruchowytsch testet mit dem heiligen, stark alkoholgeladenen Humor eines Wenedikt Jerofejew (Die Reise nach Petuschki) die Zukunftsfähigkeit einer Intelligenzija, die sich unter dem Eindruck des russischen Großmachtskollapses nur noch als Zitat ihrer selbst begreift. Die ihr Flanieren durch die ewig verregneten Moskauer Gassen, ihr halb ohnmächtiges Taumeln durch die Moskauer Metro-Schächte als Hinabtauchen in einen Untergrund erlebt, den einst andere mit satanischen Kopfgeburten bevölkerten: allen voran der große Michail Bulgakow, dessen absurde, auf den Stalinismus gemünzte Höllenmetaphorik aus Der Meister und Margarita von Andrucho- wytsch geradezu zähnefletschend fröhlich recycelt wird. Insofern ist Juri Andruchowytsch, dieser Reklamationskünstler einer neu zu gewinnenden "Lemberger" Kultur, natürlich ein Postmodernist, wie er im Suhrkamp-Buche steht.

Aber hinter dutzenden Kalauern, hinter der Zitierung von sägemehlrieselnden Popanzen vor ein imaginäres, literarische Weltgericht sitzt ein Orpheus verborgen, der in seinen besinnlicheren Momenten - solchen also, die ihn von den russischen Kollegen Viktor Pelewin oder Vladimir Sorokin durchaus unterscheiden - den Bittergeschmack des totalitären Alltags noch einmal auf die Zunge zurückruft. Otto von F.s Anwerbung durch den KGB als IM "Arthur" (benannt nach dem unerreichbaren Vorbild Arthur Rimbaud) gehört in ihrer armseligen Drangsal zu den zahlreichen Kabinettstücken eines insgesamt noch unausgegorenen Buches, das fabulierende Meisterschaft verrät und in kurzen Schlaglichtern sogar Erinnerungen an den unvergesslichen Danilo Kia wachruft.

Die Hölle aber sind immer die Alten: Ottos Abstieg in die Moskauer Unterwelt fördert ein maßloses, "allrussisches" Komplott zutage, das unter der Patronanz der Gespenster von gestern die ganze, "freie" Welt niederzuwerfen verspricht. Auf die Frage eines Mitverschwörers, in welchen Gefilden denn die Zukunft der russischen Herrenmenschen zu suchen sei, lautet die Antwort: "In Frankreich werden wir leben!" Die angedachte Zerreißung und Neuzusammensetzung der Weltkarte generiert ein erstaunliches Völkergemisch: voller "Franzusbeken, Kurdofranken, Rumängolen."

Am Schluss liegt Otto, der sich doch eigentlich gerade eine Kugel durch den Kopf gejagt hat, in einer Liegewagenpritsche mit Kurs auf Kiew. Was werden wird? Mit Andruchowytsch (46 Jahre alt) besitzt die Ukraine einen Autor, der sich beharrlich in die Weltliteratur einschreibt. (Ronald Pohl/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 4./5.11.2006)