"Knaus: Die Überlebens­strategie der kosovarischen Gesellschaft – vor dem Hintergrund eines feindseligen Staates und einer unter­entwickelten Marktwirtschaft – war die Bewahrung des traditionellen balkanischen Mehr­familien­haushaltes."

"Die Arbeitslosigkeit im Kosovo ist dramatisch, das soziale Netz praktisch nicht vorhanden." Gerald Knaus und sein Team legten unlängst die neueste ESI-Studie vor. In "Cutting The Lifeline" haben die Forscher von ESI zwei Dörfer im Kosovo unter die Lupe genommen, wirtschaftliche, soziale und strukturelle Voraussetzungen überprüft und nach Hintergründen der dortigen Misere gefragt.

Im derStandard.at-Interview mit Manuela Honsig-Erlenburg berichtet Gerald Knaus von Arbeitslosigkeit, Abwanderung und patriarchalen Strukturen. Knaus warnt die EU davor, im Kosovo die "wohlwollenden Kolonialverwalter" zu spielen.

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derStandard: Die Lage im Kosovo für die Bevölkerung ist relativ trist. Kaum Jobs, hohe Arbeitslosigkeit. Ist das nur auf die aktuelle politische Lage zurückzuführen?

Knaus: Nein. Die heutige wirtschaftliche Misere des Kosovo hat viele Väter – den jugoslawische Kommunismus, der im Kosovo besonders brutal war und kaum Entwicklung brachte, Milosevic, in dessen Ära das wenige, was der Kommunismus an Industrie aufgebaut hatte, wieder zusammenbrach, schließlich auch die Zerstörungen 1999. Nur ein Beispiel: In Lubishte, einem Dorf an der Grenze zu Mazedonien, gab es bis 1970 keinen Strom und bis 1976 keine im Winter befahrbare Straße. In der ganzen Gemeinde, in der Lubishte lag, gab es bis 1980 keinen einzigen Industriebetrieb. 1981 begann aber bereits der wirtschaftliche Zusammenbruch des Kommunismus und 1989 kam Milosevic.

Dass heute im diesem Dorf von 842 Männern und Frauen im arbeitsfähigen Alter nur 133 irgendeine Arbeit haben, hat also eine Vorgeschichte. Ähnlich sind die Verhältnisse in weiten Teilen des Kosovo. Heute leben mehr Menschen in ländlichen Gebieten als vor 20 Jahren, und hier spitzt sich die soziale Lage besonders zu. Vor diesem Hintergrund ist auch das Scheitern der Wirtschaftspolitik der UNMIK zu sehen: Bei aller berechtigter Kritik, es war ein sehr schwieriges Erbe, das hier angetreten wurde.

derStandard: Die Innenminister der EU-Staaten versuchen, Abwanderung aus dem Kosovo in Grenzen zu halten. Ist das ein Fehler?

Knaus: Es ist politisch verständlich und dennoch ein Fehler. Seit Jahrzehnten hängt vor allem der ländliche Raum im Kosovo von Migration und Überweisungen ab. Heute ist dieses Rettungsseil aber gekappt. Dabei geben die EU und ihre Mitgliedstaaten sehr viel Geld für Stabilität im Kosovo aus. Schließlich gibt es auch – wenn man es denn organisiert – durchaus Bedarf für Arbeitsmigranten in verschiedenen Teilen der EU. Es geht schließlich nicht um Millionen von potentiellen Zuwanderern sondern um einige zehntausend Kosovaren. Was nicht funktionieren wird ist, eine neue Berliner Mauer rund um den Kosovo zu errichten.

Es geht darum, politisch verträglich Wege zu finden, Arbeitsmigration aus dem Kosovo zu organisieren. Denn die Alternative ist nicht nur Instabilität im Kosovo sondern auch eine enorme Einkommensquelle für all jene, die illegale Migration von dort ermöglichen werden. Kosovo ist schließlich keine Insel sondern liegt nach dem EU Beitritt Bulgariens und Rumäniens mitten in der EU.

derStandard.at: Sie fordern in Ihrem Bericht die EU auf, die Abschottung des Kosovo aufzuheben oder mehr Polizisten zu schicken, die „zornige, junge Männer“ unter Kontrolle hält. Wie ist das gemeint?

Knaus: Europäische Polizisten sind schon im Kosovo und werden dort bleiben. Das ist nicht das Problem, sondern durchaus ein Beitrag zur Stabilität. Ein Problem entsteht dann, wenn sich die EU im Kosovo damit zufrieden geben würde, die Rolle einer wohlwollenden Kolonialverwaltung zu spielen: also Staatsanwälte, Richter, Polizisten zu entsenden, aber weder in die Infrastruktur noch in ländliche Entwicklung zu investieren und vor allem darauf zu drängen, dass Kosovaren den Kosovo nicht verlassen können. Der Kosovo braucht eine Entwicklungsperspektive und Hoffnung, sonst könnte sich das wiederholen, was wir 1997 in Albanien erlebten: den Zusammenbruch schwacher Institutionen. Denn die Arbeitslosigkeit ist dramatisch, das soziale Netz praktisch nicht vorhanden.

derStandard.at: Ist nicht die Bevölkerung im Kosovo mit daran beteiligt, dass die wirtschaftliche Situation in dem Gebiet so schlecht ist?

Knaus: Die Überlebensstrategie der kosovarischen Gesellschaft – vor dem Hintergrund eines feindseligen Staates und einer unterentwickelten Marktwirtschaft – war die Bewahrung des traditionellen balkanischen Mehrfamilienhaushaltes, einer strengen patriarchalischen Familienordnung. Diese Familienform bringt Schutz in schweren Zeiten, stellt aber heute auch ein Entwicklungshemmnis dar. Es wird wenig in die Bildung, vor allem auch von Mädchen, investiert.

Das Prinzip, Land unter allen Brüdern in jeder Generation aufzuteilen, verstärkt die Rückständigkeit der Landwirtschaft. Trotz der jungen Bevölkerung des Kosovo haben auf dem Land junge Menschen fast keinen Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen. Die große Herausforderung ist es, einen Staat aufzubauen der es auch jenen, die nicht zu einem Mehrfamilienhaushalt gehören, in schwierigen Zeiten ermöglicht zu überleben. Dazu ist Wirtschaftswachstum notwendig, und hierfür wiederum eine Qualifikationsoffensive der Bevölkerung. Das schlimmste Versagen der Regierenden in Pristina ist, das über diese Fragen aber kaum gesprochen wird.

derStandard.at: Sie fordern die Bevölkerung im Kosovo auch auf, eine "soziale und institutionelle Revolution" zu beginnen, warum ist das nötig?

Knaus: Kosovo hat heute die bei weitem niedrigste Erwerbstätigkeit von Frauen in Europa, auf einem Niveau mit Südostanatolien. Im ganzen Kosovo arbeiten gerade zehn Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter, und das schließt die Landwirtschaft mit ein. Um ein letztes Mal auf Lubishte zu sprechen zu kommen: von einer Bevölkerung von 1,543 Menschen verdienen dort genau zwei Frauen eigenes Geld! Und nur zwei junge Frauen aus dem Dorf gehen heute auf eine Universität. Damit aber bleiben Frauen zeitlebens abhängig, und die Gesellschaft verbaut sich durch fehlende Investionen in Bildung auch eine bessere Zukunft. Hier sollte die EU ansetzen: Investitionen in Schulen, in Ausbildung, Stipendien auch für ländliche Familien, Förderung von Frauen. Und wenn es die EU nicht tut, sollten es Mitgliedsstaaten wie Österreich tun, auch im eigenen Interesse an einer Stabilisierung der Region.

derStandard.at: Serbischstämmige KosovarInnen finden Jobs in Belgrad, für Kosovo-Albaner ist das nicht möglich?

Knaus: Hier ist es wichtig, von unbetrittenen Tatsachen auszugehen: 1991 lebten im Kosovo laut jugoslawischer, von Belgrad nie in Frage gestellter Volkszählung 194.000 Serben. Heute sind es laut Serbischem Koordinationszentrum in Belgrad etwa 130.000. Etwa 14.300 serbische Schüler gehen heute im Kosovo in Grundschulen. Wir wissen also relativ genau, wie viele Serben, die 1991 im Kosovo gelebt haben, es heute nicht mehr tun, und wo heute Serben leben. Das Erstaunliche ist: Während fast alle Serben, die in Städten wie Pristina, Pec oder Prizren gelebt haben, geflohen sind, ist die große Mehrheit der ländlichen Serben im Kosovo auch nach 1999 in ihren Dörfern geblieben.

Und dabei ist sicher ein wichtiger Grund die Perspektivenlosigkeit einer Migration nach Serbien. Wer als Serbe in den 90er Jahren in Pristina lebte, hatte oft eine Ausbildung, Kontakte und konnte in Serbien eine neue Existenz beginnen. Wer aber von seinen zwei Hektar Land im Südostkosovo abhängt, der überlegt sehr genau, ob eine Abwanderung nicht den sozialen Tod bedeutet. Und wenn die Perspektive für Serben schon so schlecht ist, ist sie für Albaner nicht viel attraktiver.

derStandard.at: Leidet das Kosovo unter Stillstand durch Isolation?

Knaus: Vieles, was wir heute im Kosovo als rückständig erleben, gab es vor zwei Generationen auch in anderen Teilen des Balkan, auch in Italien oder im ländlichen Österreich. Auch mein Vorarlberger Großvater, der auf einer Alm aufwuchs, beendete gerade einmal die Pflichtschule und wuchs in einem Raum mit vielen Geschwistern auf. Ebenso wäre es ein Irrtum zu glauben, dass sich im Kosovo Dinge nicht auch ändern können. In Pristina, auch in der Diaspora in Europa, leben heute gut ausgebildete Kosovaren, junge Männer und Frauen, die sich sofort in jedem Land der EU zurechtfinden würden. Das Entwicklungsgefälle zwischen Kosovo und dem übrigen Europa ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Diesen Trend umzukehren ist die wirkliche Herausforderung vor der ein unabhängiges Kosovo stehen wird.

derStandard.at: Fühlt sich Serbien für die Entwicklungen im Kosovo nicht zuständig?

Knaus: Nein. Das kann man Serbien auch nicht verübeln, schließlich gibt es – gerade auch in Süd- und Ostserbien – genug andere Probleme mit rückständigen Gebieten. Es gibt in Serbien allerdings wenige, die aus dem allgemeinen Desinteresse für die Probleme der Menschen im Kosovo die Konsequenz ziehen und anerkennen, dass der Kosovo einen eigenen Weg verfolgen sollte und ohnehin nur durch eigene Anstrengungen auf die Beine kommen kann.

derStandard.at: Könnte eine Unabhängigkeit des Kosovo Ihrer Meinung nach etwas ändern?

Knaus: Es ist sehr wichtig, dass endlich Klarheit besteht, wer denn nun im Kosovo wofür verantwortlich ist. Es ist ebenso wichtig, dass die fehlende Statuslösung nicht mehr als Entschuldigung für jedes Versagen der Regierenden in Pristina herhalten kann. Es ist aber auch wichtig, keine Illusionen zu haben: Die Unabhängigkeit alleine wird das Leben der Kosovaren kurzfristig nicht leichter machen. So wird am Tag der Unabhängigkeit Kosovo auch einen Teil der alten jugoslawischen Staatsschulden übernehmen. Auch den Rückzug der UNMIK wird die Wirtschaft sofort spüren. Es ist also durchaus möglich, dass sich die wirtschaftliche Lage in den nächsten zwei Jahren weiter verschlechtert. Darauf müssen verantwortungsvolle Politiker die Bevölkerung des Kosovo schon heute vorbereiten, sonst riskieren sie eine enorme Enttäuschung.

derStandard.at: Wie wird die westliche Politik im Kosovo rezipiert?

Knaus: Den meisten Menschen im Kosovo ist bewusst, dass man die USA und die EU noch sehr lange zur Unterstützung brauchen wird. Hier haben Europa und vor allem die USA einen Vertrauensvorschuss. Bei aller Sorge, dass es in letzter Minute noch einmal zu Verzögerungen bei der Statusfrage kommen könnte, überwiegt doch die Hoffnung, dass es nicht mehr lange dauern wird bis sich die Dinge im Kosovo zum besseren wenden.