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Angespannte Beziehungen zwischen der EU und der Türkei: EU-Kommissar Olli Rehn bei seinem Treffen mit dem türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan.

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Andreas Marchetti ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Europäische Integrations­forschung der Universität Bonn. Zu seinem Forschungs­schwerpunkten zählt der EU-Beitritt der Türkei und er ist Mitherausgeber des EU-Turkey-Monitor.

Foto: Privat
Für den 8. November wird der nächste Fotschrittsbericht der EU-Kommission zur Türkei erwartet. Die "Financial Times Deutschland" hat den Entwurf des Berichts veröffentlicht und erwartet ein "schlechten Zeugnis" . Im Interview mit derStandard.at erklärt der Politikwissenschaftler Andreas Marchetti vom Zentrum für Europäische Integrationsforschung der Universität Bonn, wo die größten Probleme liegen und warum er davon ausgeht, dass die EU mit einem strengen Bericht ein Zeichen setzen möchte. Das Gespräch führte Sonja Fercher.

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derStandard.at: In den vergangenen Monaten mehrte sich die Kritik an der Türkei. Im September schickte EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn einen Blauen Brief an Ankara, in dem er einen "Reformstau" beklagte. Wo liegen denn die größten Probleme beim Reformprozess in der Türkei?

Andreas Marchetti: Meines Erachtens gibt es global zwei Facetten der Probleme: Das eine ist, dass das Reformmomentum seit Aufnahme der Beitrittsverhandlungen insgesamt nachgelassen hat - offenbar aus dem Reflex heraus, dass man so hart daran gearbeitet hat, am 3. Oktober 2005 die Verhandlungen aufnehmen zu können, dass da erstmal die Luft ein bisschen draußen war.

Das zweite Thema ist natürlich direkt mit der momentanen Situation verbunden: Viele Reformen wurden auch im Vorfeld schon durchgeführt und sind auch weiterhin auf dem Weg, das Problem ist aber die Implementierung vor Ort.

derStandard.at: Können Sie das anhand eines Beispiels erklären?

Marchetti: Ein Beispiel dafür ist die Änderung des Strafgesetzbuches, die zwar entsprechend umgesetzt wurde, nur wie das in der Praxis aussieht, ist wieder eine andere Frage. In der letztinstanzlichen Rechtssprechung zum Beispiel gibt es hier ein ambivalentes Bild: Das heißt, einmal gibt es Freisprüche, ein anderes Mal dann doch Verurteilungen und man weiß nicht, wo die Rechtssprechung hingehen wird.

derStandard.at: Zuletzt wurde der Armenien-Genozid ein Thema. Ein neues Hindernis auf dem Weg der Türkei in die EU?

Marchetti: Wenn es um die Frage der historischen Verantwortung gegenüber den Armeniern geht, so kann man Parallelen sehen: Die Türkei hat sich zumindest ansatzweise bemüht, es wurde eine Historikerkommission eingerichtet und man hat angekündigt, man würde sich auch deren Ergebnis beugen.

Da ist also ein Dialog initiiert, dass das aber nicht von heute auf morgen geht, das wissen wir ja in Deutschland oder Österreich auch, denn diese Themen sind ja auch emotionell beladen. Da ist es natürlich dann von EU-Seite problematisch, wenn so etwas passiert wie der Gesetzesbeschluss in der Assemblée Nationale in Frankreich, bevor dieser Dialog irgendwie Frucht bringend sein konnte

derStandard.at: Ein weiteres Thema im Zusammenhang mit der Reform des Strafrechts ist die Meinungsfreiheit. Gab es da Fortschritte oder ist das überhaupt noch ein Problem?

Marchetti: Gerade jetzt sieht man bei den Prozessen gegen Schriftsteller seit Anfang des Jahres, dass die Rechtssprechung sehr ambivalent ist. Der Fall Orhan Pamuk wurde sozusagen geflissentlich eingestellt, weil auch der externe Druck so groß war. Wenn aber die internationale Aufmerksamkeit nachlässt, kann das tatsächlich noch problematisch sein.

Ich denke, dass hier eine größere Kultur des Meinungsaustauschs, der gegenseitigen Toleranz und des gegenseitigen Respekts von Positionen einziehen muss, weil das zu einer pluralistischen Demokratie einfach dazu gehört. Ich glaube, dass das in der türkischen Gesellschaft wohl gegeben ist. Das Problem ist nur, wie das von den Gerichten gehandhabt wird.

derStandard.at: Umfragen zufolge sinkt die Zustimmung in der Türkei zum EU-Beitritt. Was sind die Ursachen?

Marchetti: In der Türkei fühlen sich viele von der EU vor den Kopf gestoßen, weil nach türkischer Auffassung - und zum Teil stimmt das ja auch - immer neue Forderungen auf die Agenda gesetzt werden. Ein Beispiel ist die Debatte um die Aufnahmekapazität, die man natürlich auch schon früher diskutiert hat. Aber noch nie wurde einem einzelnen Beitrittskandidaten das Gefühl vermittelt, dass man ihn damit rauszuhalten versucht.

Das kommt aber in der Türkei momentan allerdings so rüber, und es ist ja auch so: Die Aufnahmefähigkeit der EU wird nicht mit Bezug auf Kroatien diskutiert, sondern sie wird hauptsächlich mit einer Speerspitze gegen die Türkei in die Debatte eingebracht.

Natürlich richten sich nicht alle Forderungen nur gegen die Türkei, da gibt es auch eine Überinterpretation, beispielsweise beim Verhandlungsmandat: Einzelne Regelungen wie, dass die Verhandlungen ein Prozess mit offenem Ende sind, sind auch bei Kroatien im Verhandlungsmandat enthalten.

derStandard.at: Im Zusammenhang mit der Integrationsdebatte in Deutschland wurde Fundamentalismus zum Thema. Lässt sich in der Türkei ein Erstarken des Fundamentalismus feststellen? Oder ist das nur eine vorurteilsbeladene Debatte, dass in der Türkei mehr Frauen das Kopftuch tragen?

Marchetti: Ich denke, das muss man tatsächlich ein bisschen differenzieren. Es ist ja nicht unbedingt ein Zeichen von Fundamentalismus, wenn Frauen Kopftücher tragen.

Was man definitiv sagen kann ist, dass es eine Tendenz in der Gesellschaft gibt, sich wieder stärker auf Werte aus der Religion zu beziehen. Fundamentalismus würde ich das nicht unbedingt nennen.

derStandard.at: Ist es vielleicht auch so, dass es diese Phänomene immer schon gegeben hat, wo man aber jetzt erst genauer hinsieht?

Marchetti: Ich glaube schon, dass die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit besonders stark ist, was solche Phänomene betrifft, weil sie auch in gewisse Schemata hineinpassen. Was ja nicht heißt, dass es diese Phänomene nicht gibt, das ist ja völlig unbestritten. Es ist nur die Frage, ob sie repräsentativ sind und inwieweit sie speziell türkisch sind, denn die gibt es ja auch woanders.

derStandard.at: Ihrer Ansicht nach sind sie nicht repräsentativ?

Marchetti: Der Fokus ist ein bisschen einseitig. Sie sind natürlich effektiv vorhanden. Ich würde aber sagen, dass sie vielleicht für ein Prozent der Bevölkerung repräsentativ sind.

Natürlich kann man auch die Frage stellen, ob es nicht auch legitim ist, sich das genauer anzusehen, schließlich geht es ja darum, dass das Land in die Europäische Union will und daher natürlich gewisse Standards erfüllen muss.

Zum Beispiel das Thema "Ehrenmorde": Dafür gibt es ja das Strafrecht und das hat man in der Türkei auch angepasst. Nur inwieweit kann man den türkischen Staat dafür haftbar machen kann, wenn es dennoch passiert? Kann man denn zum Beispiel Polen dafür haftbar machen, wenn dort ein Verbrechen passiert?

derStandard.at: Im letzten Fortschrittsbericht der EU-Kommission von vor einem Jahr wurde die Lage der Frauen kritisiert. Sehen Sie seither Fortschritte?

Marchetti: Langsam, wenn überhaupt, da ist noch viel zu tun. Ich weiß nicht, ob in dem Fortschrittsbericht im Vergleich zum vergangenen Jahr von vielen Fortschritten die Rede sein wird. Ich bezweifle das ehrlich gesagt, weil ich glaube, dass die EU auch ein Zeichen setzen wird: Jetzt haben die Verhandlungen angefangen, jetzt müsst ihr richtig liefern. Und in diesem Bereich ist wie in vielen anderen substantiell so viel nicht passiert.

derStandard.at: Ein anderes Thema, das medial viel Aufmerksamkeit erregt hat, war das Wiederaufflammen des Konflikts mit den Kurden. Was ist eigentlich der Hintergrund dafür?

Marchetti: Es scheint zum Einen damit zusammenzuhängen, dass in der Türkei wieder ein verstärkter Bezug auf die Nation spürbar ist. Zwar haben wir über den Kemalismus ja sowieso schon immer einen starken Nationalismus in der Türkei. Dieser wurde aber stärker, weil man sich in Bezug auf Zypern ein bisschen verschaukelt fühlt. Ich habe das Gefühl, dass die komplette türkische Gesellschaft in diesen Fragen wieder stärker zusammenrückt und ich denke, dass das natürlich auch die Kurden mitbekommen.

Dazu kommt aber noch etwas anderes: Die von Kurden im Sommer verübten Attentate waren zeitlich um den Wechsel im türkischen Generalstab platziert, als Yasar Büyükanit Generalstabschef wurde. Büyüjanit gilt als Hardliner und hat auch offiziell immer schon betont, dass er gegen die Kurden eine ganz harte Linie fahren wird. Ich denke, da ist durchaus ein Zusammenhang zu sehen.

derStandard.at: Büyükanit wurde von Seiten der EU vorgeworfen, dass er mit seinen Aussagen zu Islamismus und der PKK beweise, dass das türkische Militär nach wie vor eine ganz andere Rolle für sich beansprucht, als dies die Europäische Union gerne sehen würde. Ein Rückschlag?

Marchetti: Das kommt darauf an, was das Militär macht. Ich denke, er ist vom Militärrat an diese Position gekommen, weil er den Laizismus durch und durch verkörpert. Nach dem offiziellen türkischen Selbstverständnis nach 1923 sind gerade der Präsident und das Militär jene Institutionen, die die türkische Republik in ihrer westlichen und säkularen Ausrichtung schützen. Ich denke, dass dieser Wechsel im Generalstab auch vor diesem Hintergrund zu sehen ist.

Zur Kritik der EU: Trotz der grundsätzlich problematischen Rolle des Militärs spielte es in einigen Bereichen für die Entwicklung des Landes eine durchaus positive Rolle. Es in gewisser Hinsicht ein Garant dafür, dass es keine Abrutschbewegungen etwa in stärker religiös konnotierte Verhältnisse gibt.

Die Schwierigkeit ist nun, wie man dem Militär das Gefühl geben kann, dass es in dem Prozess wichtig ist, man es aber trotzdem in seinen "traditionellen Rechten" oder seiner traditionellen politischen Rolle einschränken muss. Das ist eine der zentralen Aufgaben, der sich die EU mit der Türkei wird stellen müssen. Viele der Reformen sind ja nur entsprechende Anpassungen oder Justierungen, aber das ist natürlich zentral, auch für das türkische Selbstverständnis.