Zur Person
Stefan Béla Szalachy (53) ist selbstständiger PR- und Kommunikationsberater in Wien. Szalachy spricht Ungarisch, ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Was ihm von der Flucht als Dreijähriger blieb, sind blasse Erinnerungen und die Kinderschuhe von damals ...

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"Gyorsan, és ne nézzen oda!" – "Schnell, und schau nicht hin!" Meine Mutter zerrte mich dreijährigen Buben vorbei an den glosenden, zu Haufen aufgetürmten Büchern des verhassten Kommunismus. Diese hatten Aufständische in den Straßen von Budapest zusammengetragen. Wie die meisten trug auch ich eine Kokarde in den Nationalfarben Rot-Weiß-Grün als Zeichen des kollektiven Patriotismus auf dem Revers meines Mantels. Einzelne Bilder von aufgeregten Menschen, der beißende Gestank, der schwarze Rauch und die schmerzhaft tränenden Augen prägen die spärlichen Erinnerungen an die Tage nach der Revolution.

Die Nacht des Einmarsches der Sowjetarmee und die Niederschlagung des Aufstandes haben keine Spuren hinterlassen. Bei Freunden im Dorf Solymár außerhalb von Budapest untergrebracht, entschieden sich meine Eltern Mitte November zur Flucht. Mit ihren letzten Ersparnissen beauftragten sie einen Fluchthelfer. Drei Tage und Nächte dauerte unser Weg an die Grenze zu Österreich. "Wir fahren zu guten Freunden und sind bald da ...!", versuchte meine Mutter zu beruhigen. Sie wusste, dass schon vor Tagen eine panikartige Massenflucht eingesetzt hatte. Und es kursierte das Gerücht, wonach die Sowjetsoldaten auch auf Flüchtlinge schießen sollten. In der Nacht zum 25. November näherten wir uns der Grenze auf einem als Öltransporter deklarierten Lkw-Planwagen, der immer wieder von Soldaten angehalten wurde.

Der Lenker und mein Vater als Beifahrer waren ordnungsgemäß mit Frachtpapieren und Passierscheinen ausgestattet, wogegen wir, meine Mutter mit meiner Schwester, die unter Tabletteneinfluss fest schlief, und ich, uns in zwei leeren unter den sonst mit Dieselöl gefüllten Metallfässern verstecken mussten. Ich habe noch heute in den Ohren, wie Soldaten die Ladefläche abschreiten und mit den Kolben ihrer Gewehre probeweise gegen einzelne Fässer donnern, um zu prüfen, ob sie auch wirklich voll sind. "Unsere" beiden Fässer waren hinter der Fahrerkabine so eingekeilt, dass sie von der Bordkante aus nicht erreicht werden konnten. Durch ein kleines verglastes Fenster in der Kabinenwand konnte ich den Kopf meines Vaters sehen.

Mit Handzeichen gab er uns zu verstehen, wenn ein Kontrollpunkt nahte. In Erinnerung an jene endlos anmutende Nachtfahrt, die sich wie ein düsterer Schwarz-Weiß-Film in meinen Gedanken wiederholt, blieb mir das handtellergroße Loch in der Mitte der Ladefläche, durch das ich meine Notdurft verrichten musste.

Die letzten paar hundert Meter bis zur Grenze sollten wir in völliger Dunkelheit lautlos zu Fuß zurücklegen. Es ging über ein Ackerfeld, die großen Erdschollen waren hart gefroren. Meine Mutter zog und hob mich und flüsterte mir zu, jetzt still und tapfer zu sein. Mein Vater drückte meine schlafende Schwester in einer Decke fest an seine Schulter. Als wir einen Graben durchquerten, stolperte er und fiel hin, worauf meine Schwester lauthals zu weinen begann. Rasch näherten sich die Lichtkegel von Scheinwerfern. Soldaten liefen die Böschung herab.

Unsere Eltern kauerten sich schützend über mich und meine schreiende Schwester. In diesen Momenten, so schilderte sie uns in den Jahren danach, hielt meine Mutter den Atem an, presste fest ihr Gesicht in das nasskalte Gras und wartete auf das Geknatter von Gewehrsalven. So lange, bis ein Mann sie hochzog und beruhigend auf sie einsprach. Auf Deutsch. Der österreichische Grenzsoldat drückte mir eine kleine Schokolade in die Hand, die unvergessliche Ein-Schilling-Bensdorp mit der blauen Schleife und den zwei Längsrillen. (DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.10.2006)