Grafik: Der Standard

"Laut Eders Analysen sitzen 40 bis 50 Prozent der Schüler zumindest wahrscheinlich bis sicher in den falschen Schulen, weil sie die Entscheidung zu früh und mit zu wenig Information treffen mussten", erklärt Haider.

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Veraltet, sozial extrem ungerecht, Noten fast nach Lotto-Prinzip und viele Schüler in der falschen Schule: Die druckfrische Pisa-Spezialauswertung ist da und bietet viel Stoff für Koalitionäre in spe.

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Wien – Es ist das schwarze Loch in Österreichs Schulsystem: Mit zehn Jahren verschlingt es die Kinder, oft an der falschen Stelle, und mit 14 Jahren spuckt es sie wieder aus, oft in der falschen Schule. Nicht zufällig irgendwo, sondern nach höchst problematischen Prinzipien, die aus dem "seit 40 Jahren in seinen Grundstrukturen unveränderten Schulsystem" resultieren, sagt Pisa-Österreich-Chef Günter Haider zum Standard.

"Das österreichische Schulsystem ist zusammen mit dem deutschen das ungerechteste in ganz Europa", formuliert es der Schulforscher drastisch angesichts der druckfrischen Pisa-Studie mit Spezialauswertungen für Österreich.

Schwarzes Loch

Das in dem neuen Buch ausgestellte Zeugnis für das heimische Bildungssystem fällt alarmierend aus. An der Eintrittspforte ins schwarze Loch, wo die Kinder hierzulande mit zehn Jahren vorstellig werden müssen, ist vor allem der familiäre, soziale Hintergrund des Kindes die Eintrittskarte, die darüber entscheidet, ob die nächsten vier Jahre in der Hauptschule oder doch im Gymnasium verbracht werden dürfen – und welche weiteren Zukunftswege sich eröffnen oder eben nicht, kritisiert Haider.

"Die Selektion mit zehn Jahren führt zur systematischen Benachteiligung der Kinder aus sozioökonomisch schwächeren, bildungsferneren Familien. Ein Teil der ganzen Selektion mit zehn Jahren spielt sich ja in den Köpfen der Eltern ab. Darum macht es auch keinen Sinn, eine freiwillige Gesamtschule neben das differenzierte System zu stellen. Das Problem beginnt ja schon mit der Wahl der Eltern. Akademikereltern haben ganz andere Bildungserwartungen, aber auch Unterstützungsleistungen für ihre Kinder, als Arbeiterfamilien, erklärt der als Bildungsminister gehandelte Experte.

Kleine Matura

Er fordert als Gegenmaßnahme eine Gesamtschule bis 14, die mit der "kleinen Matura" abgeschlossen werden soll: "Wir brauchen unbedingt ein pädagogisches Konzept für die Gruppe der Zehn- bis 14-Jährigen, das es schafft, dass niemand systematisch benachteiligt wird. Jetzt werden die Kinder bloß in zwei Gruppen sortiert und dann wie zwei homogene Gruppen behandelt."

Die "kleine Matura" mit 14 sollte auch ein anderes Krisenphänomen in Österreichs Schulen vermeiden helfen, indem mehr und besser auf die jeweiligen Interessen der Kinder eingegangen wird. Denn am Ende des "schwarzen Lochs", mit 15, sitzt im Schnitt jeder zweite Schüler in der für ihn oder sie "falschen Schule", zeigt die Pisa-Spezialanalyse des Salzburger Erziehungswissenschafters Ferdinand Eder. Er hat Schulprofile und Schülerprofile mit Interessentests verglichen und deutliche Nicht-Übereinstimmungen vorgefunden.

"Laut Eders Analysen sitzen 40 bis 50 Prozent der Schüler zumindest wahrscheinlich bis sicher in den falschen Schulen, weil sie die Entscheidung zu früh und mit zu wenig Information treffen mussten", erklärt Haider. Abhilfe sollte eine "breite Diagnostikschiene" in der achten Klasse einer künftigen Gesamtschule bringen. Danach sei genug Zeit für "Außendifferenzierung".

Noten-Lotto 1 aus 5

Ein drittes Problem mit weit reichenden Folgen ist die hiesige Notenvergabe, die an das Lotto-Prinzip 1 aus 5 erinnert. "Ob ein Kind eine gute Note hat, hängt mehr davon ab, welche Schule es besucht, als welche Leistung es erbringt", sagt Haider. Die Pisa-Analyse zeigt, dass "sich die untersten 20 Prozent der AHS mit den obersten 20 Prozent der dritten Leistungsgruppe Hauptschule leistungsmäßig decken. Da sieht man, wo wir unsere Potenziale verlieren." (Lisa Nimmervoll/DER STANDARD Printausgabe, 21./22. Oktober 2006)