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Zur Person
Viktor Orbán (43) ist seit 1993 Fidesz-Chef und war von 1998–2002 Premierminister. Bei den heurigen Parlamentswahlen unterlag die Fidesz den Sozialisten klar.

AP Photo/Bela Szandelszky
Zwischen dem Aufstand von 1956 und der aktuellen Krise im Land zieht Ungarns Oppositionschef Viktor Orbán klare Parallelen. Damals wie heute gehe es darum, die Lügen der Politik nicht zu akzeptieren. Dass seine Politik gefährlich ist, bestreitet Orbán nicht. Mit ihm sprachen Petra Stuiber und András Szigetvari in Budapest.

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Standard: Sie haben unlängst gesagt, als Politiker noch nie gelogen zu haben. Bleiben Sie dabei?

Orbán: Ja natürlich.

Standard: Seitdem die Lügenrede von Premier Gyurcsány bekannt wurde, versucht ihre Fidesz ihn unter Druck zu setzten. Zurzeit verlassen alle Fidesz-Abgeordneten bis auf einen das Parlament, sobald der Premier das Wort ergreift. Ist es nicht ein Grundwert von Demokratie, dass man dem Gegner zumindest zuhört?

Orbán: Ich glaube, unser Benehmen ist das einzig demokratische Verhalten, dass unter den derzeitigen Umständen möglich ist. Der Premier hat offen zugegeben, die Bevölkerung in die Irre geführt zu haben. Der sozialistischen Regierung war in den vergangenen zwei Jahren bewusst, dass sie das Land in den finanziellen Bankrott steuert. Und sie haben nichts gemacht. Nach all dem könnte kein Premier in einer westlichen Demokratie im Amt bleiben. Da er nicht zurücktreten will, ist unser Verhalten der einzige Weg, ihm zu zeigen, dass wir sein Verhalten nicht akzeptieren.

Standard: Ist das demokratiepolitisch ein sehr gefährlicher Weg, den Sie da bestreiten?

Orbán: Gefährlich oder nicht. Gyurcsány ist eine Persona non grata in der ungarischen Politik. Es ist moralisch unmöglich für ein Land, unter der Leitung so eines Menschen zu bleiben.

Standard: Ihre Kritiker sagen, dass Sie Politik auf der Straße machen, weil sie im Parlament keine Mehrheit haben.

Orbán: Ich habe keine Ambitionen auf Regierungsmacht ohne öffentliches Mandat. Wir brauchen eine technokratische Expertenregierung der nationalen Einheit. Wir wollen keine Neuwahlen, weil es dann vier Monate dauern würde, bis wir eine neue Regierung haben. Die Technokratenregierung sollte ein limitiertes Mandat bekommen, um die Finanzkrise zu bewältigen. Zuvor müssen wir aber diejenigen, die für die Krise verantwortlich sind, rechtlich und finanziell zur Verantwortung ziehen. Sie sind ja Milliardäre. Drei Milliardäre haben das Land zerstört: Der Finanzminister, der Wirtschaftsminister und der Premierminister.

Standard: Also die Fidesz hat kein eigenes Konzept, wie das Budget saniert werden soll?

Orbán: Wir müssen die demokratischen Institutionen stärken. Denn die Demokratie hat sich als zu schwach herausgestellt, um sich selbst zu verteidigen. Dem Premier ist es gelungen, alle Kontrollinstitutionen zu neutralisieren – et-wa durch den Führungswechsel im statistischen Zentralamt, das im Hintergrund an der Fälschung der Fakten beteiligt war. Was das Budget betrifft: Wir werden kein Programm akzeptieren, das die Ar-beitslosigkeit steigert. Wir wol-len Steuern senken. 25 Prozent der ungarischen Wirtschaft gehören zu einer grauen Zone, zahlen keine Steuern. Senken wird wir die Steuern, kehren sie in die Legalität zurück.

Standard: Werden sie die 1956-Feiern für ihren Kampf gegen die Regierung nutzen?

Orbán: Die Feier der Revolution von 1956 schafft immer neue Energien und Mut. Die Revolution hat eine sehr klare Botschaft: Wir wollen nicht mit Lügen leben. Das ist dasselbe jetzt: Wir wollen auch heute nicht in einem Land leben, das auf Lügen basiert.

Standard: Finden Sie es gerechtfertigt, Parallelen zwischen dem Kampf gegen die Sowjetdiktatur und dem Kampf gegen die heutige demokratische Regierung zu ziehen?

Orbán: Ich habe keine Verantwortung für die Botschaft der Revolution von 1956. Ich war nicht dabei. Aber die historische Botschaft der Regierung von damals war, dass man gelogen hat. Der Premierminister sagt jetzt dasselbe. Wenn jemand diese Parallele geschaffen hat, dann er.

Standard: Die heutige Krise kann also mit jener von 1956 verglichen werden.

Orbán: Nein. Das ist keine Frage von sowjetischen Panzern. Das war eine Besonderheit der Revolution von 1956. Aber das Gefühl, dass wir keine Lügen akzeptieren wollen, ist nach wie vor gültig. Das ist die ewige Botschaft von 1956.

Standard: Der Bürgermeister von Budapest sagt, dass auf den Fidesz-Protesten die Namen jüdischer Politiker verlesen werden und die Fahnen der faschistischen Pfeilkreuzer und die für Ultranationalisten symbolträchtige Árpád-Fahne zu sehen sind.

Orbán: Wir lehnen jede Art von Diktatur ab. Es gibt keine Pfeilkreuz-Fahnen auf unseren Demonstrationen, das ist ein Missverständnis. Und die Árpád-Fahnen sind auch im Parlament präsent, wenn der Staatspräsident und der Premiermierminister an seinem ersten Amtstag der Nation die Treue schwören. Sie ist eine historische Fahne, sie war bis 1849 die Nationalflagge. Die Verlesung jüdischer Namen hat es auf Fidesz-Demonstrationen nie gegeben.

Standard: Viele Beobachter sagen, dass nur eine große Koalition Ungarn aus der Krise führen kann. Mit Ihnen und Gyurcsány wird das aber nicht möglich sein, oder?

Orbán: Sie haben Recht, weil ich so einer Koalition immer entgegenstehen werde. Es wäre schlecht für das Land. Die sozialistische Partei weist eine Kontinuität zu dem Einparteiensystem auf. Sie halten, was das Geld und die Strukturen betrifft, das Erbe dieser Partei aufrecht.

Standard: Sie setzen jetzt die sozialistische Partei mit der kommunistischen gleich.

Orbán: Nein. Aber es gibt eine klare Parallele: Beide bevorzugen Monopole. In der Wirtschaft, im politischen Leben. Wir wollen eine Gesellschaft mit Wettbewerb. Der Unterschied ist, dass Kommunisten die Monopole in grauen Anzügen genossen. Die gegenwärtigen Führer der Sozialisten genießen die Monopole in modernen Business-Anzügen. (DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.10.2006)