Wenn ein Betrieb Konkurs anmeldet, so ist das in der Regel gerade mal eine Zeitungsmeldung wert – es sei denn, die Hintergründe erscheinen besonders skandalös. Die Papierfabrik im niederösterreichischen Schlöglmühl machte dahingehend keine allzu lauten Schlagzeilen – ein Fall von Misswirtschaft, wie es eben viele andere auch gibt: Im Dezember 1982 wurde der Betrieb geschlossen, und annähernd 270 Beschäftigte verloren ihren Arbeitsplatz.

 

Egon Humers Dokumentarfilm Postadresse: 2640 Schlöglmühl begnügt sich allerdings nicht mit den „hard facts“. Wennschon zu Beginn aus Die Arbeitslosen von Marienthal, der berühmten Studie von Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda, zitiert wird, dann legt das eine erste Fährte: Die Ausmaße einer Fabriksschließung mögen, gemessen an einer größeren ökonomischen Skala, noch so klein erscheinen, ihre Effekte auf das soziale Leben sind enorm. Schlöglmühl hat ohne die Fabrik, die mit so vielen Bereichen des Ortes in Verbindung stand, keine Basis mehr. Was übrig bleibt, zeigt Humers Film – nicht als „Chronique scandaleuse“, auch nicht als distanzierte Soziologie, sondern als facettenreiche Annäherung an eine umfassende Depression.

Schon mit der Auswahl der Protagonisten gibt Humer die Perspektive vor. Hier sprechen ausschließlich Betroffene – was schon dadurch zum Politikum wird, als sich einige von ihnen in der Phase des Protests gegen die Schließung erfolglos um eine größere Öffentlichkeit und um eine Lobby bemühten. Eine Reise zum Ministerium in Wien, erzählt ein Arbeiter, blieb völlig folgenlos – allein der abschließende Abend beim Heurigen gefiel ihm. Der viel zu späte Besuch des Landeshauptmanns vor Ort, rekapituliert eine Kollegin lebhaft, mündete in einen Eklat, da sie sich nicht mit dessen ausweichenden Worten abfinden wollte. Aus dem Off werden zudem Briefe vorgelesen, in denen sich Arbeiter über die fehlende oder mangelhafte Berichterstattung empören. „Des schneit’s ihr eh raus“, heißt es einmal – das deutlichste Zeichen der Skepsis gegenüber Medien.

Aber nicht alle wollen reden. Zu weiten Teilen ist Postadresse: 2640 Schlöglmühl ein Film des Schweigens, der vom zurückliegenden Furor nur indirekt erzählt. Bedächtige Kamerafahrten an den Fassaden der Gebäude entlang, länger gehaltene Einstellungen kaum beleuchteter Innenräumen oder eigenartig wattierte Szenen von menschlichen Zusammenkünften zeigen auf, wie paralysiert der Ort in seiner momentanen Situation erscheint. Über solche Veranschaulichungen hinaus konkretisiert sich schließlich in bestimmten Gesten das Elend (ohne dass dies je ausbeuterisch erschiene): Menschen, aus ihrem Arbeitskontinuum gerissen, im Dämmerzustand, der Alkohol als Trost. ImFernsehen läuft irgendwann eine Sendung über den ersten bemannten Flug zum Mond – in Schlöglmühl landet niemand mehr.

Dominik Kamalzadeh, Kulturjournalist und Filmkritiker (der Standard); Redakteur von „kolik.film“