Als Der Rabe im Mai 1951 seine Uraufführung in Wien erlebte, war das zugleich die Geburtsstunde des österreichischen Nachkriegsexperimentalfilms.

 

Der Bildhauer und Maler Kurt Steinwendner, geboren 1920, hatte sich gemeinsam mit Wolfgang Kudrnofsky, einem Psychologen und Fotografen (der später im ORF als Redakteur für Kunst- und Kultursendungen wirken sollte), an die Bearbeitung von Edgar Allen Poes gleichnamigem Gedicht gemacht. Inspiriert von u.a. dem Surrealismus Jean Cocteaus und den Schriften des Filmtheoretikers Béla Balász schaffen sie ein Stück Kinopoesie von hoher Intensität. Sie wählen einen düsteren und einigermaßen enigmatischen Text, aus dem Off gelesen, um ihn gleichsam zu transzendieren (anstatt zu illustrieren).

Poes Gedicht wird mithilfe verschiedener filmischer Verfahren – von Überblendungen und ungewöhnlichen Kadragen bis zu der Verwendung von Negativfilm und dem Einsatz verstörender Musik – einem Prozess ausgesetzt, der es quasi auf seine (poetische) Essenz reduziert. Der Rabe verleiht extremen psychischen Zuständen Ausdruck – ein neuer Ausdruck war es auch, worum Filmemacher nach 1945, im Bruch mit den Traditionen, rangen.

Auch Steinwendners nächster Film, sein erster Spielfilm, legte Zeugnis ab von seinen Bemühungenumeinen neuen Anfang: Wienerinnen, der bereits 1952 in die Kinos kam (und dort erfolglos blieb), beginnt – während wir noch ins Schwarz blicken – mit einem Walzer.

Das erste Bild kündigt an: „Schrei nach Liebe“; und startet schon den Reigen der Wiener Sehenswürdigkeiten und Tourismusschönheiten, um auf dem Gesicht einer Statue einzufrieren und von dort auf das Gesicht der Ziegeleiarbeiterin Anni überzublenden.

Der sparsam eingesetzte Erzähler weist darauf hin: Wir sind nun im anderen Wien; im Wien der Schornsteine (die nicht zufällig an die Schornsteine der KZ-Öfen erinnern), der Verschub- Bahnhöfe, der Speichersilos und Friedhöfe.

Auch Wienerinnen entsteht als Absage an Konventionen, an das Herkömmliche und Repräsentative, sich dabei beständig an der Zerstörung des Klischees abarbeitend. Die vier, jeweils um eine Wienerin und ihre Suche nach „reiner“ Liebe komponierten Episoden kreisen um menschliche Untiefen, finstere Geheimnisse und Verbotenes.

Die Kamera ist mobil und scheut weder Dunkelheit noch schräge Winkel. War es bei Der Rabe noch der Surrealismus, so bildet für Wienerinnen der italienische Neorealismus das ästhetische Referenzsystem. Nach der Isolation während des Nationalsozialismus entstanden in allen Kunstsparten Avantgarden. Der österreichische Film aber, der sich in der Verantwortung des Handelsministeriums befand, blieb bis in die 60er-Jahre im Bann der Restauration, nämlich des Heimatfilms. Wienerinnen ist einer der raren, aber auch frühesten Versuche, das österreichische Kino für die Moderne zu öffnen.

Sylvia Szely, Film- und Fernsehhistorikerin; zuletzt Hg. von „Spiele und Wirklichkeiten“