Am Roque de los Muchachos thronen die weißen Kuppeln der Teleskope.
La Palma Galerie

Foto: www.lapalma-galerie.de
Am späten Nachmittag verschwinden die Geckos. Es geschieht auf einer Höhe von knapp anderthalbtausend Metern. Während in den unteren Stockwerken von La Palma die schwarzen Felsen notdürftig bekleidet sind, zunächst von unansehnlichen Bananenplantagen und dann, eine Etage weiter oben, von einer Art Urwald, ist die Westflanke der Insel obenherum fast nackt. Man läuft durch die Gegend wie im Negativ einer Fotografie, schwarzer Untergrund, weißer Mensch.

Die Temperatur beträgt geschätzte viertausend Grad, vielleicht ist es auch noch wärmer. Unter diesen Umständen verkommt der Mensch zu einem Eiweißklumpen, der zischend auf der heißen Herdplatte denaturiert. War es vielleicht ein Fehler, an einem Tag über die gesamte Insel laufen zu wollen? Kann man La Palma unterschätzen?

Perfekt für den Überblick

Als Bewohner eines Flächenlandes hat man nur selten Gelegenheit, aus eigener Kraft einen messbaren Teil eines größeren Ganzen zu durchqueren. Das ist eine deprimierende Situation: Die Erde fliegt mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit um die Sonne, diese wiederum kreist um die Milchstraße, als gäbe es kein Morgen, und die Milchstraße vertreibt sich die in großen Mengen vorhandene Zeit damit, durch andere Galaxien hindurchzufliegen. Man selbst steckt mittendrin in dieser Maschine und kriegt von all dem überhaupt nichts mit. Darum muss man manchmal quer über eine handliche Insel laufen, nur um wenigstens einmal den Überblick zu haben. La Palma, eine der sieben Hauptinseln der Kanaren, scheint dafür perfekt geeignet.

La Palma ist nach Augenmaß ziemlich klein. Die Insel beginnt unten am Meer, und überall kann man nachlesen, dass es sich dabei um den echten, gefährlichen Atlantik handelt und nicht etwa um so ein harmloses Pseudomeer. Gefährlich ist der Atlantik allerdings nur, weil La Palma in ihn hineingebaut wurde und er so die Gelegenheit hat, den Badenden einfach gegen etwas Hartes, Scharfkantiges zu werfen, um ihn umzubringen. Es ist die Insel, die gefährlich ist, der Ozean will nur spielen.

Von einem beliebigen Ausgangspunkt nahe der Westküste von La Palma beträgt der Abstand zur gegenüberliegenden Ostküste selten mehr als 20 Kilometer. Befindet man sich im Westen in Los Llanos, der größten Stadt der Insel, so wären es theoretisch, so glaubt man, nur zwei angestrengte Stunden Fußmarsch bis nach Santa Cruz, der zweiten großen Ansiedlung. Zwei Stunden nur, um eine gesamte Landmasse zu überqueren!

So beginnt die Inselquerung mit großer Zuversicht. Die versammelten Bananenplantagen, Inseldörfer und Gemüsefelder flimmern still in der Hitze vor sich hin. Niemand sonst ist auf den Wegen und Straßen - abgesehen von unzähligen grünen Geckos natürlich, die zischend am Wegesrand sitzen und sich ruckartig durch die Landschaft bewegen. Reptilien sind bewundernswerte Geschöpfe, weil sie es schaffen, so auszusehen, als wären sie aus Plastik, das doch erst Millionen Jahre, nachdem sie auf die Welt gekommen waren, erfunden worden ist.

Die dritte Dimension

Leider hat La Palma sich ein Feature ausgedacht, das man auf dem Weg leicht übersieht, obwohl es in keiner Weise versteckt ist: die dritte Dimension. Zwischen Ost- und Westküste bildete sich eine Kette aus schwarzen Vulkanen, sicherlich vor längerer Zeit schon. Vulkane, das kennt man normalerweise nur aus Katastrophenfilmen und aus der Eifel. Der größte von ihnen heißt Roque de los Muchachos, ist fast drei Kilometer hoch und beherbergt eine größere Anzahl von weißen Kuppeln, in denen sich einige der besten Teleskope befinden, die Europa zu bieten hat.

Unter anderem mit ihrer Hilfe wurden 1995 die ersten Braunen Zwerge entdeckt - dunkle Gestalten im Weltall, nicht groß genug, um wie Sterne andauernd hell zu brennen. Stattdessen glimmen sie schwach vor sich hin und konnten sich daher jahrzehntelang verborgen halten. Mittlerweile bevölkern eine ganze Reihe Brauner Zwerge den Himmel, die nach ihrem Entdeckungsort "Roque" heißen.

Nach nur wenigen Stunden Herum- irrens in der Ebene taucht die Vulkankette allmählich am Horizont aus dem Dunst auf - sehr weit oben. La Palma ist, so viel wird allmählich klar, eines der größten Gebäude auf dem Planeten.

Es ist rätselhaft, warum die dritte Dimension meist so schmählich ignoriert wird. Im Unterschied zu ihren beiden Kollegen in der Fläche besitzt die dritte Dimension eine klare Vorzugsrichtung, die durch die Schwerkraft festgelegt wird. Das ist eine unangenehme Eigenschaft: Nach oben zu kommen ist ungemein schwer, nach unten dagegen einfach. Das ist leider auch nicht verhandelbar, die Welt ist schrecklich stur in dieser Angelegenheit.

Kleine Insel mit großer Wirkung

Man erzählt, dass es nur weniger Stangen Dynamits bedarf, an der richtigen Stelle angebracht, um die gesamte hochaufgetürmte Struktur von La Palma zum Einsturz zu bringen. Eine gewaltige Lawine aus schwarzem Fels würde sich überhastet ins Meer stürzen, dort einen Tsunami auslösen, der ungebremst in alle möglichen Kontinente schwappen würde. New York würde endgültig vernichtet, Berlin läge plötzlich am Strand und Kuba wäre von Leichen übersät, das alles, nur weil eine kleine Insel explodiert. Winzige Ursache, haarsträubende Wirkung, so geht es doch auch, Kausalprinzip!

Zum Dank dafür, dass man endlich die Lavahänge erreicht, die nach oben führen, wird man mit Wald und somit Schatten belohnt. Es ist weiterhin unklar, ob Plato Recht hatte und die von uns wahrgenommene Welt tatsächlich ausschließlich aus Schatten besteht, klar ist jedoch, dass eine Welt gänzlich ohne Schatten unerträglich wäre, speziell im Hochsommer auf einer Insel, die sich nicht weit vom Äquator entfernt zu befinden scheint. Zur Orientierung im dichten Wald ist es ratsam, sich ausschließlich an der Schwerkraft zu orientieren, sich an ihr immer weiter nach oben zu hangeln, immer dorthin zu gehen, wo es am anstrengendsten ist, dort muss oben sein. La Palma sollte ernsthaft darüber nachdenken, Geografie zu exportieren, zum Beispiel nach Niedersachsen, man könnte ein Vermögen verdienen.

Grüne Flecken auf schwarzem Untergrund

Kurz vor den Geckos verschwinden schließlich die Bäume wieder. In einem schmalen Bereich ist man allein mit den Geckos in der Lavawüste, inmitten von grünen Flecken auf schwarzem Untergrund. In "Angst und Schrecken in Las Vegas", der drogengeschwängerten Reise zum amerikanischen Traum, gibt es eine Szene, in der Protagonist Duke, vollgestopft mit Meskalin und LSD, halluzinierte Reptilien erschießt. "Dreckige Giftbeutel" nennt er sie, und in der Gluthitze von La Palma sehen sie auch ohne halluzinogene Substanzen genauso aus. Die Augen quellen weit hervor, als würden sie demnächst platzen und tödlichen Schleim freisetzen, der sich über das Gebirge ergießt und jedes nicht reptile Leben vernichtet. Anschließend werden die Geckos vermutlich die Insel in die Luft jagen, die zivilisierte Welt überschwemmen und sich zufrieden zur Ruhe setzen.

Wenig später beruhigt sich die Lage. Vollkommen einsam erreicht man das Refugio El Pilar, gelegen auf der scharfen Naht in der Mitte La Palmas, die sich längs über die Insel zieht. Plötzlich hat man den gesuchten Überblick, Vulkane im Norden und Süden, sorgsam aufgereiht, in alle Richtungen geht es nach unten, und ringsum ist Meer. Von oben betrachtet, wirkt die Insel viel weniger komplex, als wenn man mittendrin steckt.

Alles wird schwarz

Solange man hinaufgeht, erscheint einem die Schwerkraft als Klotz am Bein, der das Vorankommen behindert. Kaum geht man aber hinunter, stellt sich her-aus, dass die Schwerkraft einem dabei auch nicht sehr hilft, weil sie viel zu stark zieht. Jeder Schritt auf tiefem Lavasand zieht eine längere Rutschpartie nach sich, weil die Erde nicht einsieht, warum man so langsam nach unten will. "Schneller, schneller", fordert sie beständig, man erwidert "ja, aber" und rutscht schon wieder einige Meter versehentlich den Vulkan hinab. Irgendwo auf dem mühsamen Weg wird zwangsläufig die Sonne untergehen. In normalen zivilisierten Gegenden ist das kein Grund zur Panik, nicht so auf La Palma: Die Insel ist eines der wenigen Gebiete, in denen die Dunkelheit wie ein seltenes Reh gesetzlich geschützt ist. Das ist alles schön für den Sternenhimmel, der jetzt allmählich zum Leben erwacht, aber ganz schlecht für das Vorankommen auf steilen Bergpfaden.

Es dauert noch sehr lange, bis man das ersehnte Meer wieder erreicht. Am Ende sind nicht nur die Felsen schwarz, sondern auch der Rest der Welt. Finsternis passt farblich viel besser zu La Palma als Sonnenlicht. Viele tausend anonyme Sterne hängen über dem Strand, das sind genau viele tausend mehr als an anderen Orten. Die ständigen Begleiter der Inselwanderung jedoch, Braune Zwerge und Geckos, sind unsichtbar im Schutze der Dunkelheit.(Aleks Scholz/Der Standard/Rondo/20.10.2006)