Vor der Emigration: Der österreichische Rechtswissenschafter Hans Kelsen in den 1920ern.

Foto: DER STANDARD/Anne Feder Lee, Enkeltochter von Hans Kelsen
Vor 125 Jahren wurde der österreichische Politikwissenschafter und Rechtswissenschafter Hans Kelsen geboren. Machte er sich international als Gründungsvater der Reinen Rechtslehre einen Namen, so setzte er in Österreich vehement auf die Volksbildung.

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Am 11. Oktober 1881 vor 125 Jahren wurde Hans Kelsen in Prag geboren. Sein Name wird international mit der Reinen Rechtslehre, deren Gründungsvater er durch seine Habilitationsschrift Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911) ist, verbunden, einer Rechtstheorie, die die normative Befassung mit dem positiven (gesatzten) Recht unter den Kriterien der Wissenschaftlichkeit ermöglicht.

Speziell in Österreich ist Kelsen durch seine Mitarbeit an dem in wesentlichen Zügen bis heute geltenden Bundesverfassungsgesetz (BVG) von 1920 als Rechtsgestalter bekannt. Hervorzuheben sind dabei seine Bemühungen um die Verfassungsgerichtsbarkeit, die vielen Rechtsordnungen als Vorbild diente. Als Rechtswissenschafter leistete Kelsen wichtige Beiträge zur Dogmatik des heimischen Verfassungsrechts und des Völkerrechts, als Politikwissenschafter arbeitete er grundlegend zur Demokratietheorie und zur Staatslehre. Er behandelte auch die Abgrenzung zwischen normativer (rechtsdogmatischer) und empirischer (soziologischer) Methode und trug Wichtiges zur Theorie der Gerechtigkeit bei.

Kelsen wirkte in der Ersten Republik bis 1930 als Richter am Verfassungsgerichtshof; als Rechtslehrer war er jahrelang an der Uni Wien, danach an den Universitäten Köln (1930-33) und Prag (1936-38) sowie am Institut Universi- taire des Hautes Études Internationales in Genf (1933-35, 1938) tätig. Durch den antisemitischen Wahn des Nationalsozialismus in die USA vertrieben, lehrte er zunächst in Harvard (1940-42) und hatte anschließend bis 1952 eine Professur für Political Science in Berkeley inne. Dort starb Hans Kelsen 1973, bis zuletzt forschend und publizierend.

Ein fast schon in Vergessenheit geratener Wirkungsbereich Kelsens ist sein Engagement für Volksbildung. Denn neben seiner Lehrtätigkeit an der Exportakademie (heute: Wirtschaftsuniversität) sowie an der Juristischen Fakultät, leistete die Abhaltung von Vorträgen und Kursen in der Wiener Volksbildung dem jungen Rechtsgelehrten für viele Jahre einen Beitrag zur Existenzsicherung. Auch bot sie ihm die Möglichkeit, an der Verbreitung von Wissen(schaft) mitzuarbeiten. Die Losung der Volksbildung - "Popularisierung ohne Simplifizierung" - stimmte mit Kelsens Bildungsgedanken überein: Ausbildung der Menschen zu kritikfähigen, politisch mündigen Individuen.

Gewecktes Interesse

Von 1910 bis kurz vor seiner Emigration aus Österreich war Kelsen engagiertes Mitglied der Wiener Volksbildung und Vertreter der Reformpädagogik im Roten Wien. Er lehrte als Erwachsenenbildner am "Volksheim", dem legendären Volksbildungshaus in Wien-Ottakring, und bei den "Volksthümlichen Universitätsvorträgen", einer Kooperation von Universität und Volksbildung, die heute unter dem Namen "University meets Public" firmiert. Indem er in vielen Veranstaltungen die Vorgänge im Staat einsichtig und nachvollziehbar machte, weckte er ein tiefer gehendes und nachhaltiges Interesse an der Politik als einem rationalen und diesseitigen Gestaltungsinstrument. Damit unterstützte er den edukativen Anspruch der Wiener Moderne: Befreiung von geistiger Bevormundung, Vorbereitung einer Zivilgesellschaft, einer diskutierenden Öffentlichkeit. "Denken lernen" war das Schlagwort.

Kelsen trat für eine wissenschaftliche Weltauffassung (Rationalismus und Relativismus) und für politische Bildung aller ein, weil er in der Ausbildung zur kritischen Urteilsfähigkeit und zur Wahrnehmung von Gestaltungsmöglichkeiten die grundlegende Voraussetzung für die Teilnahme am demokratischen Dialog sah. Nicht als Wissenschafter, aber als politischer Denker und Bürger bekannte er sich zur Demokratie als relativ bester aller möglichen Staatsformen und war überzeugt: "Die Erziehung zur Demokratie wird eine der praktischen Herausforderungen der Demokratie selbst."

Als ein der Objektivität verpflichteter Wissenschafter war Kelsen Agnostiker, parteipolitisch neutral und in diesem Sinne unpolitisch; dies machte aber sein Wirken in der Volksbildung vor allem zu Zeiten der Monarchie höchst politisch, verfolgte er doch damit zentrale Werte der Aufklärung: Säkularisierung und somit Inthronisierung des Menschen als Subjekt seiner Handlungen. Seine Bemühungen um ein "Wissen für alle" (so der Leitgedanke der Volksbildung) standen in enger Verbindung zu den sozialreformerischen und emanzipatorischen Zielen jener Zeit: Nicht hörige Untertanen und Jasager sollte die Bildung hervorbringen, sondern selbst denkende, freie Menschen. Da diese Ziele selbst heute noch nicht überall erreicht sind, bedürfen die Bemühungen Kelsens der steten Fortsetzung. (Tamara Ehs Klaus Zeleny/DER STANDARD, Printausgabe, 11. Oktober 2006)