Langsam spricht sich herum, dass in Österreich nicht nur bis zu 160.000 Menschen ohne jeden Krankheitsschutz sind, sondern dass wir selbst mit Unfall- und Krankenversicherung nur gegen akute Krankheit, nicht aber gegen chronisches Kranksein, Hilfs- und Pflegebedürftigkeit, ebenso wenig gegen die Folgen von Berufsunfähigkeit, Betriebsunterbrechung und Behinderung ausreichend versichert sind. Eher "Haftpflicht" als auch nur "Teilkasko".

Diese Pflegeversicherungslücke existiert trotz eines der weltweit großzügigsten Pflegegeldgesetze. Sie bedeutet für 16 Prozent der über 60-Jährigen ein existenziell bedrohliches Risiko - das ist allerdings weniger wahrscheinlich als Alters- und Krankheitsrisken.

Doch wie kann es in Österreich einen "Pflegenotstand" geben, wenn wir mit 4,5 Prozent fast doppelt so viele Pflegegeldbezieherinnen als Deutschland (2,5 Prozent) haben? Sind wir so viel kränker und pflegebedürftiger? Oder mit zusätzlich höherer Höchstleistung so viel großzügiger als unsere großzügigsten Nachbarn? Und doch unzureichend großzügig? Oder zu kleinlich für allzu viele? Immerhin verlor das Pflegegeld seit seiner Einführung 1993 um 15,5 Prozent an Wert, für Pflegebedürftige der Stufe 7 über 2600 Euro jährlich, bei zugleich viel mehr Beziehern.

Tatsächlich konnte man für Pflegegeld welcher Stufe auch immer nie mehr als einen kleinen Teil des behördlich festge-stellten Pflegeaufwands bezahlen - zumindest nicht legal ohne Arbeitsmarktöffnung für osteuropäische Selbstständige. Pflegegeld war stets als Pauschalbeitrag zur bloß teilweisen "Abdeckung pflegebedingter Mehraufwendungen" gedacht.

Bei Pflegestufe 3 etwa - offizieller Pflegebedarf von 120 Stunden monatlich - reicht das Pflegegeld zum Zukauf von ca. 15 Stunden Pflege für Bessergestellte, von bis zu 40 Stunden für die Einkommensschwächsten. Ärmere müssen also 66 Prozent des amtlich bestätigten Pflegeaufwands, Wohlhabendere 88 Prozent zusätzlich selbst aufbringen. Aus Vorsorge und Ersparnissen. Oder durch unbezahlte Arbeit von Familienangehörigen und Freiwilligen. Oder unterbezahlte Leistungen von Au-pairs. Oder eben informelle Betreuung. Bloße "Haftpflicht" ist politisch durchaus erwünscht: Die tendenziell unendliche, unstillbare, persönlich sehr variable Nach-frage nach Zuwendung, Liebe, Sorge und Betreuung ist außer im Kernpflegebereich kaum objektivierbar. Damit nicht vergesellschaftungsfähig; prinzipiell unberechenbar und unbezahlbar. Selbst "Teilkasko" sündteuer.

Zur individuellen Pflegelücke aus beabsichtigter Unterdeckung des Pflegeaufwands kommen zweitens wohl unbeabsichtigte gesellschaftliche Fehlsteuerungen hinzu. So werden für 3,6 Prozent stationär betreute Alte über 90 Prozent aller Mittel außer dem Pflegegeld verwendet, während die 96 Prozent der außerhalb von Anstalten familiär betreuten Personen kaum 10 Prozent an Zuschüssen für ambulante Dienste erhalten. Diese verkehrte Welt mag sich auch dadurch verfestigen, dass die Eigenbeiträge Pflegebedürftiger zu Heimplätzen 49 Prozent, zu Heim-diensten hingegen nur 25 Prozent betragen - und damit für die verantwortlichen Länder ohne Kurswechsel finanziell ergiebiger sind.

Drittens wird die individuelle und die gesellschaftliche Pflegelücke durch einen organisatorischen, kollektivvertraglichen und legistischen Notstand verstärkt, der es pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen praktisch unmöglich macht, benötigte Dienste überhaupt legal, leistbar und außer wochentags von 8 bis 20 Uhr zu kriegen (siehe "Pflege letal legal" Standard 25.9.) Über weitere Pflegelücken demnächst. (Bernd Marin/DER STANDARD, Printausgabe, 9.10.2006)