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Ipek Calislar
Foto: AP/epa/ Tolga Bozoglu
Ipek Calislar hat eigentlich gar nichts gegen Mustafa Kemal Atatürk. Jedenfalls hält sie seine Verdienste für so evident, dass der Staatsgründer der Türkei "kein Gesetz braucht, das ihn schützt" wie jenen berühmten Strafrechtsparagrafen 301, dessen Abschaffung die EU verlangt.

Dass die renommierte Publizistin Calislar sich nun dennoch vor Gericht wegen "Beleidigung des Türkentums" verantworten muss, hat sie dem Leser Hüyseyin Tugrul Pekin zu verdanken. Er begründete seine Klage damit, dass die Journalistin und Autorin in ihrem Buch schrieb, Atatürk sei einem Anschlag entkommen, weil seine Frau Latife ihm dazu geraten habe, einen Tschador zu tragen. Dies sei eine Beleidigung für die türkische Nation "und insbesondere für mich selbst", so Pekin. Der Ganzkörperschleier für Frauen würde also Atatürk entwürdigen und damit alle türkischen Männer und damit das Türkentum an sich.

Calislar hatte in der Biografie "Latife Hanim", die bereits in neunter Auflage erscheint, eine Episode aus dem Jahr 1923, dem Jahr der Staatsgründung beschrieben. Damals sei das Haus Atatürks von Konterrevolutionären belagert worden. Latife hielt die Angreifer hin und verhalf ihrem Mann, geschützt in einer Gruppe von Frauen und Kindern, zur Flucht.

Ipek Calislar hat viel übrig für Latife Ussaki. Sie sei eine Sufragette gewesen und wollte ihren Mann dazu bringen, das Frauenwahlrecht einzuführen, auch weil sie selbst ins Parlament wollte. Jedenfalls war sie keine Zicke, wie sie bisher dargestellt wurde. Calislar ist selbst Feministin. Seit 1971 schreibt die heute 59-Jährige über Frauenrechte. Sie arbeitete zehn Jahre lang für das staatliche Radio und Fernsehen als investigative Journalistin. Von 1972 bis 1974 saß sie wegen "kommunistischer Propaganda" im Gefängnis. Damals wurden die repressiven Maßnahmen durch den Einfluss des Militärs verstärkt. Calislar engagierte sich zudem in der türkischen Frauenbewegung. 2003 wurde sie als Nachrichtenchefin bei der Zeitung Cumhuriyet gefeuert. "Weil ich zu unabhängig war", sagt sie zum Standard.

Dann kam ihr die Idee, sich mit Latife auseinanderzusetzen. Sie forschte zwei Jahre. Im Juni wurde das Buch publiziert, dann schritt der Staatsanwalt ein. "Das sind ja keine ernsthaften Anschuldigen. Nichts in meinem Buch verstößt gegen das Gesetz", sagt Calislar. Sie habe keine Angst vor einer Verurteilung. Also werde sie auch zur Verhandlung am 19. Dezember kommen. In der Türkei rechnen viele damit, dass wie im Fall Pamuk und Safak die Klage zurückgezogen wird.

Gefreut hat sich Calislar aber über die Solidarität anderer Frauen. Etwa als Frauenministerin Nimet Cubukcu sie anrief und ihr sagte, die Klage täte ihr leid. Calislar ist verheiratet und hat einen Sohn. (Adelheid Wölfl, DER STANDARD, Print, 7./8.10.2006)