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Protest 2006: Es waren nur wenige, die am 18. September zum Fernsehen wollten. Später flogen Steine, und Polizeiautos standen in Flammen.

Foto: AP
Eine Stunde nach Mitternacht in Budapest. Die Luft ist mild, junge Leute, auch Pärchen, gehen auf dem Rákoczi-Boulevard auf und ab. In der Nähe des prächtigen Urania-Kinos sperrt ein dichter Polizeikordon die Fahrbahn. Kurz vorher hatten hunderte Demonstranten versucht, die nahe gelegene Zentrale der ungarischen Sozialisten zu stürmen. Berittene Polizisten hatten dort die Menge auseinandergetrieben. Aber jetzt ist es still. Ein Langhaariger mit einer Bierdose in der Hand torkelt auf die Polizisten zu, schimpft, will auf sie losgehen. Ein Kumpel hält ihn zurück: "Hör auf, die sind doch nur da, um uns zu helfen." Der Betrunkene beruhigt sich. Die Umstehenden, vielleicht ein Dutzend, applaudieren. Es wird wieder still. Plötzlich schlägt am nahen Blaha-Luiza-Platz eine hellgelbe Flamme hoch. Beim Näherkommen wird klar: Ein Polizeiauto brennt. Die Feuerwehr kommt. Eine ganze Viertelstunde lang herrscht immer noch Stille. Jetzt aber wirft jemand einen Mistkübel knallend auf das Pflaster. Drei, vielleicht fünf Männer fangen an, Steine zu werfen. Es sind Teile der Marmorverkleidung, die sie gerade vom Sockel eines Hotels gerissen haben. Tränengas füllt die Luft, jetzt gellen auch Wutschreie, Flüche. Der Polizeikordon setzt sich in Bewegung, drängt die etwa hundert Passanten - oder sind es Demonstranten? - in die Seitenstraßen.

So also funktioniert Randale. So funktioniert das, was die ungarischen Rechten in diesen Tagen eine "Revolution" nennen. Einen Tag vorher hatte der rechte Mob das Gebäude des ungarischen Fernsehens verwüstet, zwei Tage vorher war der so genannte Lügenskandal um Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány ausgebrochen. Auf immer noch unbekannten Wegen war eine parteiinterne Rede des Premiers vor seiner sozialistischen Fraktion publik geworden, in der er einräumt, dem Volk im Wahlkampf nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Eine temperamentvolle Rede, in der Gyurcsány mit sich selbst und mit seinen Parteifreunden hart ins Gericht geht. "Wir haben gelogen, morgens, nachts und abends" - das sind die schweren Worte, die Gyurcsány aussprach.

Sie werden ihn nun wohl für immer verfolgen. Die interne Standpauke sollte der Start sein für die Reformen, die schmerzhaften Sparmaßnahmen, die man, gerade wiedergewählt, mit frischer Kraft angehen wollte. Das Band mit der Rede geriet ins Internet, es folgten zwei Nächte der Gewalt auf Budapests Straßen, tagelange Demonstrationen vor dem Parlament. Bis zur landesweiten Kommunalwahl am vergangenen Sonntag, die Gyurcsánys Sozialisten eine katastrophale Niederlage bringen sollte, waren die Dauerprotestler allerdings zu einem Häufchen von ein paar hundert Leuten zusammengeschrumpft. Ihre Leitfigur Viktor Orbán, Vorsitzender der rechtsnationalen Oppositionspartei Fidesz, war von eigenen Parteifreunden zunächst davon abgehalten worden, sich an ihre Spitze zu setzen. Doch nun, nach seinem Sieg bei den Kommunalwahlen, riecht Orbán Morgenluft. Er rief das Volk zu Protesten auf die Straße, die so lange dauern sollen, bis Gyurcsány zurücktritt. Die Straße, Orbáns liebste politische Bühne, soll das bewirken, wofür der Fidesz-Chef nicht im Parlament kämpfen will.

Wie fließend die Übergänge zwischen roher Gewalt und friedlichem Protest sein können, erschließt sich aus den Details beim Sturm auf das Fernsehen, der jetzt von manchen Rechten mit dem Sturm auf den Rundfunk während des antikommunistischen Aufstands von 1956 verglichen wurde - sehr zum Ärger vieler Vereine der 56er-Revolutionäre. Es waren zunächst nur etwa 20 Leute, die sich von der beim Parlament laufenden Demonstration getrennt und zur nahe gelegenen Fernsehzentrale gegangen waren. Sie wollten dort eine Petition übergeben. Als sie nicht vorgelassen wurden, ging einer zurück zum Parlament, um von denen dort Verstärkung zu holen. Es kamen noch etwa 200 dazu. Dann flogen Steine, Polizeiautos gingen in Flammen auf. Irgendwann gab das Gittertor am Portal des Fernsehgebäudes nach und die Menge drang ein, verwüstete Büros, zerschlug Computer.

Erschreckend fließend wirken die Grenzen zwischen Gewalt und friedlichem Protest auch an jenem Abend vor dem Parlament, drei Stunden bevor das Polizeiauto am Blaha-Luiza-Platz in Flammen aufgehen wird. Tausende sind wieder am Kossuthplatz. Die Menge gemischt, ein paar Glatzköpfe mit der faschistischen weiß-roten Arpadfahne, aber auch coole Mittdreißiger mit Dreitagebart, 50-jährige Lehrerinnen und Rentner. Auf der hell erleuchteten Bühne spricht der 28-jährige László Toroczkai, Vorsitzender der rechten "Jugendbewegung der 64 Burgkomitate", die Träume vom 1918 zusammengebrochenen Großungarn propagiert.

In der klatschenden Menge steht auch Réka Kovács, 34 Jahre alt, eine dunkelhaarige, schlanke Frau mit Brille. "Alles, was die Sozialisten bisher gemacht haben, ist der Tod der Nation. Bitte schreiben Sie das", sagt sie. Réka hat Gewissensbisse, weil sie ihr Brot als Mitarbeiterin eines multinationalen Unternehmens verdient. Sie will baldmöglichst einen Job bei einer ungarischen Firma finden, denn "die Multis machen unsere Unternehmen kaputt". Worte aus dem klassischen Repertoire der Fidesz aus dem Mund einer gebildeten jungen Frau, die vermutlich keinen Stein auf Polizisten werfen würde.

Nicht weit von ihr steht ein junger Mann, Mitte dreißig, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, weil er sonst vermutlich verhaftet würde. Denn er war am Vorabend beim Sturm auf das Fernsehen dabei. Ansonsten gibt der hagere, diskret gekleidete 34-Jährige mit Kinnbärtchen sehr freundlich Auskunft. Zwischendurch reißt er immer wieder kurz den rechten Arm hoch und schreit, wie die Menge um ihn herum. Er sei von Beruf Verkäufer in einem CD-Laden und studiert auch noch Geografie an der Universität. Gestern sei er direkt von zu Hause zum Fernsehen gelaufen, weil er gehört hatte, dass es dort Randale gäbe und dass die Demonstranten das nahe gelegene sowjetische Ehrendenkmal demolierten. Da wollte er unbedingt mitmachen, denn das kommunistische Monument sei ein Schandfleck. Ja, hier müsse man "alles zusammenhauen", wenn Gyurcsány nicht zurücktritt. Er sagt es leise, aber bestimmt.

Ein Mittfünfziger mischt sich ins Gespräch. Er lebt eigentlich in den USA, besucht gerade die alte Heimat und ist mehr aus Neugier hier. Vom "Zusammenhauen" hält er gar nichts. Ob der junge Freund denn schon etwas von Mahatma Gandhi gehört habe, dem Pionier des gewaltlosen Widerstandes? Die beiden streiten heftig, doch zum Abschied geben sie sich die Hand: "Gott schütze die Ungarn." Das sagen beide, fast zeitgleich. (Kathrin Lauer/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7./8. 10. 2006)