"Entnazifiziert": Paul Heigls Porträt (1944) wurde 1973 retuschiert veröffentlicht.

Foto: ÖNB

Christina Köstner und Murray G. Hall: penible Aufarbeitung der NS-Zeit.

Foto: Regine Hendrich
STANDARD: In Ihrem Buch "'... allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern ...'" zeigen Sie das Porträt von Direktor Paul Heigl zweimal: mit Parteiabzeichen 1944 - und die "entnazifizierte" Variante, die 1973 in einer Geschichte der ÖNB des Hausbibliothekars Ernst Trenkler veröffentlicht wurde. Ist dieses retuschierte Foto nicht das Symbol schlechthin für den ÖNB-Umgang mit der NS-Zeit?

Hall: Ja. Nichts könnte augenscheinlicher einerseits - um es positiv zu formulieren - die bewusste Distanzierung zur NS-Zeit darstellen und anderseits die Verdrängung.

Köstner: Das Foto in Trenklers Buch war das einzige von Heigl ohne Parteiabzeichen. Das hat mich gewundert. Bei der Suche nach weiteren Fotos im Bildarchiv bin ich dann durch Zufall auf das nicht retuschierte Porträt gestoßen.

STANDARD: Gibt es eine Erklärung für die Verdrängung? Josef Bick, Direktor nach 1945, hatte eigentlich keinen Grund, die Geschichte zu fälschen.

Köstner: Aber Trenkler war von 1930 durchgehend bis Anfang der 70er Jahre in der Bibliothek. Und Bick war Direktor auch vor der NS-Zeit.

Hall: Ich glaube, man wollte die NS-Zeit nicht als Teil der eigenen Geschichte sehen oder anerkennen. So in der Art: Sie ist über uns gekommen, wir waren die Opfer. Und die "Erwerbungen", das waren die bösen Nazis, das war der SS-Mann Heigl, der im April 1945 Selbstmord beging.

STANDARD: Wie viele Bücher hat die ÖNB insgesamt unrechtmäßig "erworben"?

Hall: Etwa 500.000. Wir können die Zahl nur schätzen, weil nicht alle Bücher katalogisiert wurden. Doubletten wurden getauscht oder an andere Bibliotheken im Reich weitergegeben. Und Heigl sammelte, um sich Hitlers Gunst zu sichern, für die geplante Führerbibliothek in Linz: Die Bücher wurden in der Villa Castiglioni am Grundlsee gelagert. Die Gestapo hat die Bücher der ÖNB einfach vor die Tür gestellt - in Körben. Aber es gab auch aktive Erwerbungen: Heigl hat zum Beispiel mit Hilfe der Gestapo Fritz Brukner gezwungen, seine sehr große Altwiener Theatersammlung zu einem Spottpreis von vielleicht 5000 Reichsmark zu "verkaufen". Geschätzt wurde der Wert auf 120.000 Reichsmark.

Köstner: Oder: Elise Richter, Professorin an der Romanistik in Wien, wurde 1938 zwangspensioniert. Zusammen mit Helene Richter hatte sie eine sehr wertvolle Bibliothek mit einer großen Autografensammlung. Der Direktor der Kölner Universitätsbibliothek wusste um den Bestand und drängte die beiden zum Verkauf. Die NB wurde gebeten, unterstützend zu wirken. Sie erhielt dafür die Autografen. Sie konnten noch nicht zurückgegeben werden, weil die Erben unklar sind.

STANDARD: Ernst Trenkler hat in seinen diversen Darstellungen der NS-Zeit auch seine persönlichen Verstrickungen verschwiegen: Das Unternehmen Triest kommt bei ihm nicht vor.

Köstner: Heigl hatte sehr gute Verbindungen zum dortigen Gauleiter Friedrich Rainer und daher die Verantwortung für die Bücher aus Triest und Umgebung. 300.000 Bände wurden in der Synagoge von Triest gesammelt und sortiert.

Hall: Alle, die Bücher aus der Synagoge wollten, brauchten Heigls Zustimmung. Danach wurden sie vor allem an diverse Institutionen in Kärnten verteilt. 80.000 bis 100.000 Bände sollten an die Reichstauschstelle in Berlin transportiert werden, doch dazu kam es nicht mehr. 10.000 geraubte Bände kamen in die ehemalige Brauerei Silberegg in Kärnten - neben Möbeln, Klavieren, Bettzeug und Öfen. Dieser Bestand ist verloren gegangen: Das Lager wurde nach Ende des Krieges geplündert.

STANDARD: Welche Kärntner Institutionen? Und wurden die Bücher zurückgegeben?

Köstner: Bücher kamen zum Beispiel ins Landesarchiv und in das Institut für Kärntner Landesforschung. Grundsätzlich müssten die Bestände noch in Kärnten sein.

Hall: Uns ist von Provenienzforschung nichts bekannt. Kärnten hat zwar ein Restitutionsgesetz, aber ist es dort immer noch Sache des Opfers, Rückgaben zu verlangen.

STANDARD: Nach dem Krieg kam es erneut zu Erpressungen - im Zusammenhang mit Ausfuhrgenehmigungen.

Köstner: Die ÖNB hat sich dabei die Rosinen herausgepickt. Wie eben zum Beispiel das Rothschild Gebetbuch.

Hall: Wenn man die Akten liest, denkt man: Unter den Vertriebenen ist die Schenkungswut ausgebrochen. Keiner wollte seine Sammlung komplett zurück haben. Jeder wollte der NB etwas schenken.

STANDARD: Die "Schenkungen" wurden ja nun zurückgegeben. 2004 stellte sich die ÖNB dem Thema auch mit der Ausstellung "Geraubte Bücher". Wie kam es zu diesem Buch?

Hall: Ich schlug Generaldirektorin Johanna Rachinger 2001 vor, eine Geschichte der ÖNB zu schreiben. Finanziert wurde das Projekt vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Aber notfalls hätte auch Rachinger die Recherchen ermöglicht. Wir haben alles gesichtet, was vorhanden ist. Ich nehme an, dass das Direktionsarchiv zu 99 Prozent vollständig ist.

STANDARD: Was ist der nächste Schritt? Die UB Wien?

Köstner: Richtig. Ich arbeite jetzt dort als Provenienzforscherin. Auch da: Es gibt eine neue Direktion - und plötzlich ist die Aufarbeitung möglich. (Thomas Trenkler/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26. 9. 2006)