Erst seit den 90er-Jahren erobert das populäre indische Kino (zu dessen Einzugsgebiet der Nahe Osten, Teile von Südostasien und, nicht zu vergessen, die indischen Exil-Communities gehören) zunehmend auch westliche Leinwände, TV-Sendeplätze und Videotheken. Ähnlich wie zuvor etwa das Hongkong-Kino nicht länger ein Insider-Geheimtipp blieb, sondern auch vom breiten Publikum entdeckt (und zum Talentreservoir für Hollywood) wurde, rückte auch "Bollywood" international zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit. Zumindest am Programmkinosektor werden indische Produktionen inzwischen auch bei uns regelmäßig regulär gestartet. Das Wiener Filmcasino, das sich einschlägig verdient gemacht hat, präsentiert nun im Vorfeld des Buchmessenschwerpunkts eine konzentrierte Auswahl indischen Filmschaffens:
Das Kuratorenteam (Daniel Wisser, Gerald Schuberth und Andreas Ungerböck) hat elf Arbeiten ausgesucht – sechs zeitgenössische und fünf historische Filme. Wobei Letztere eine "Mini-Filmgeschichte" darstellen sollen. Denn, so Wisser, "einen Film wie "Mister India" (1987) von Shekhar Kapur muss einfach jeder einmal gesehen haben." Schon allein wegen jener wunderschönen Gesangsnummer, in der sich der weibliche Star des Films, Sri Devi, nach dem Helden (der sich unsichtbar machen kann) verzehrt – Windmaschineneffekte, künstliche Wolkenbrüche und lodernde Feuer inklusive. Bei den zeitgenössischen Produktionen liegt im Hinblick auf die Buchmesse ein Schwerpunkt auf Literaturverfilmungen und auf jenen aktuellen politischen Themen, die auch in der zeitgenössischen indischen Literatur eine Rolle spielen: "Mani Ratnams "Bombay" zum Beispiel (einer der besten indischen Filme der 1990er-Jahre) behandelt dasselbe Thema wie der Roman "Die durchs Feuer gehen" von Raj Kamal Jha, der soeben bei Goldmann in deutscher Sprache erschienen ist."
Aber was bedeutet Bollywood nun eigentlich? Auf die Schnelle assoziiert man damit melodramatische, epische Erzählungen, in denen ausgiebige Gesangs- und Tanznummern die Handlung durchziehen, zugleich aussetzen und vorantreiben, surreale Räume eröffnen oder abrupte Ortswechsel (vom malerischen Strand zu idyllischen Berglandschaften) ermöglichen. So, wie man es sonst nur von Musicals kennt. Oft sind die Geschichten zeitlich verschachtelt – die Erinnerung einer Figur initiiert lange Rückblenden, die im Verhältnis zum Geschehen in der Gegenwart ungleich ausführlicher ausfallen. Eine Eigenheit, die mit dem "hinduistischen Zeitbewusstsein" zu tun hat, die jedoch gewissermaßen auch zur Regel erhebt, was für die gängige Hollywood-Dramaturgie eher die Ausnahme darstellt: Das vorläufige "Ende" einer Erzählung steht am Anfang. Erst nachdem die Vorgeschichte bekannt ist, bereitet dieses Wissen im Weiteren die Möglichkeit einzugreifen und eine Wendung – wenn nicht gar ein erlösendes Happyend – herbeizuführen.