Mehr Mut zur Lücke? Hat der österreichische Film mit der Ankündigung der STANDARD-Edition endgültig zu Höhenflügen abgehoben? Nein, Roland Düringer und Co verzweifeln (sehr erfolgreich) in "Hinterholz 8".

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Lust an der "offenen" Liste - und ihren Unvollständigkeiten: Claus Philipp.

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Uns war nicht daran gelegen, eine Enzyklopädie des österreichischen Films zu schreiben. Nicht das Umfassende reizte uns, sondern das Entwickeln von Ideen, deren Notwendigkeit aus den Filmen stammt, deren Legitimation die Zusammenhänge erschließt. Diese Haltung führt zu Lücken. Manche Namen, manche Topoi, mit denen sich das österreichische Filmschaffen identifiziert, kommen nicht vor." – So die Filmhistoriker und -theoretiker Elisabeth Büttner und Christian Dewald in ihrer bahnbrechenden "Geschichte des österreichischen Films von 1945 bis in die Gegenwart", Anschluss an Morgen.

Bahnbrechend war dieses Buch insofern, als es erstmals den Versuch unternahm, Lesarten der heimischen Filmgeschichte zuzulassen, die im vorher obligaten, linearen Herunterbeten von Chronologien, Biografien, Werkkatalogen kaum jemals berücksichtigt wurden: Entstanden ist da ein "Passagenwerk" durch Motive und Haltungen, die sich über zeitliche Brüche, Genres, Produktionsformate hinweg neu erzählen ließen. Gleichzeitig musste das "Exemplarische" oder, wenn man so will, Außerordentliche mancher Arbeiten und Biografien nicht mehr allgemeingültig für "das Ganze" stehen. Kurz: Die große kanonische Geste, die den Vollständigkeitsanspruch mit dem ästhetischen Werturteil verbindet (und dabei doch nur Behauptung bleibt, sehr bald revidiert werden muss) – sie geht Büttner/Dewalds Lesebuch auf wohltuend offene Weise ab.

Als der Verleger Georg Hoanzl an den STANDARD herantrat, mit dem Ansinnen, eine Edition der "50 besten österreichischen Filme" zu kompilieren und herauszugeben, da war dieser Anschluss an Morgen eine erste und letztlich sehr wesentliche Inspiration.

Klar, dass wesentliche Erfolge kommerzieller wie künstlerischer Natur – von Hinterholz 8 über Die Klavierspielerin bis hin zu heute kaum noch gezeigten einstigen Hits wie Exit – Nur keine Panik nicht fehlen dürfen. Was , so dachte man beim ersten Erstellen von "Besten"-Listen (und der Zurkenntnisnahme von Nicht-Verfügbarkeiten, die jedes derartige Projekt begleiten) – was wäre, wenn man den (vermeintlich) engen Rahmen des "Besten" wie des "Nationalen" sprengt? Wenn man gerade in Ausritten und Seitensprüngen das hereinholt, was vermeintlich "peripher" genannt wird? Funktioniert so nicht letztlich jede Leidenschaft, Kinolust, Leselust?

In der nun vorliegenden Standard-Edition Der österreichische Film wird denn auch zu Recht vielen vieles fehlen. Sehr viele werden aber auch "einiges" zu entdecken haben, das sie vorher bestenfalls vom Hörensagen kannten. Dass beispielsweise wesentliche Arbeiten von Axel Corti oder Peter Patzak für DVD-Releases aufgrund ungeklärter Rechtsfragen derzeit nicht verfügbar sind, so wird man für diesen "Mangel" mehr als entschädigt, wenn man hier kleinen unbekannten Meisterwerken wie Cortis Scharang-Verfilmung Totstellen oder Patzaks Walser-Adaption Das Einhorn (mit dem großen Peter Vogel in der Hauptrolle!) begegnet.

Andererseits: Wer etwa Wolfgang Murnberger lediglich als begnadeten Wolf-Haas-Krimiregisseur kennt, kann in unserer Edition erst ermessen, warum er sich so sehr für die Auslotung der Haas'schen Melancholie und Neugierde eignet: Erstmals sind auf einer DVD Wolfgang Murnbergers autobiografische Juwelen Himmel oder Hölle und Ich gelobe zusammengestellt. Überhaupt: Frühe stilprägende Filme! Das Filmarchiv Austria und Sixpack Film waren äußert hilfreich, als es zum Beispiel darum ging, nahezu unbekannte Kurzfilme, etwa von Andreas Gruber, Fritz Lehner, Ulrich Seidl, Wolfram Paulus, Barbara Albert und anderen, zusammenzustellen, Schätze zu heben – wie etwa Leo Tichats Die Verwundbaren -, die von der bisherigen Filmgeschichtsschreibung noch kaum berücksichtigt sind.

Viele Passagen und Lesarten, Ansichtsweisen und Kombinationen sind in dieser Edition, dieser "offenen" Liste möglich:

Räsonierende Wehrmachts-Austellungsbesucher (in Ruth Beckermanns Jenseits des Krieges) stehen neben den durch die EU-Sanktionen des Jahres 2000 irritierten Österreichern vor Schlingensiefs Container (in Paul Poets Ausländer raus) und dem 1. April 2000 (1952), in dem "Österreich ist frei!" noch SciFi war. Helmut Qualtinger (in Kurzer Prozess) trifft – auch ziemlich überfordert – auf seinen würdigen Nachfolger Josef Hader. Roland Düringers verzweifelter Häuslbauer (in Hinterholz 8) begegnet dokumentierter sozialer Tristesse bei Ulrich Seidl (Good News, Hundstage) oder Egon Humer (Postadresse 2640 Schlöglmühl). Gleich dreimal ist Elfriede Jelinek in der Edition vertreten: Mit den Buchvorlagen für Die Ausgesperrten, Die Klavierspielerin und vor dem Ausländer raus-Container. Wienbilder aus der Frühzeit des Kinos (in Gustav Deutschs Found-Footage-Film Welt Spiegel Kino), setzen sich fort in weiteren Stadtlandschaften über die Jahrzehnte hinweg. Und und und.

Wie war das noch mit dem Listen-Schreiben? Man schreibt Listen, wenn man etwas nicht vergessen will oder wenn man etwas braucht. Und wenn man dann hinausgeht, stellt man fest, dass man jetzt erst recht etwas vergessen hat, oder dass man plötzlich etwas braucht, das man vorher noch nicht kannte. Viel Spaß! (Claus Philipp /DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.9.2006)