Das Leben am Wiener Nordrand ist kein Zuckerschlecken. In der gesichtslosen Stadtrandsiedlung herrscht die Misere, der Krieg auf dem Balkan spült täglich neue Flüchtlinge in das soziale Auffangbecken und der Winter überzieht das Land mit Eiseskälte. Kein Wunder, dass sich die Protagonisten aus Barbara Alberts Film Nordrand ein anderes Leben erträumen.

 

Während sich Jasmin die familiäre Tristesse mit TV-Romanzen versüßt, hält die Serbin Tamara allen Anfechtungen zum Trotz am Wunsch fest, Krankenschwester zu werden. Und während sich der bosnische Flüchtling Senad in die Arme der erstbesten Österreicherin stürzt, nimmt der Rumäne Valentin jeden Drecksjob an, um sich die Auswanderung in die USA zu finanzieren.

Es sind die kleinen Fluchten und die großen Fantasien, die das Leben am Rand erträglich machen, und Albert kleidet ihre Aufzeichnungen einer physischen und psychischen Grenzregion in eine realistisch- poetische Bildsprache. Puzzleartig verknüpft sie in ihrem Film die Schicksale von fünf Jugendlichen, die auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam haben, lässt sie kurz zueinander finden und dann wieder ihre eigenen Wege gehen. Was die Figuren aufeinander zutreibt, ist der Zufall, was sie aneinander bindet die Sehnsucht nach menschlicher Wärme – nach Zuneigung und Zuversicht an einem Ort, an dem es jahreszeitlich und politisch kälter wird. Das Drama, zu dem die damals knapp dreißigjährige Regisseurin auch das Drehbuch verfasste, besticht durch seine präzise örtliche und zeitliche Situierung: Dokumentarisches Material, das in die fiktionale Handlung eingeflochten ist, verweist auf das Jahr 1995, als im nahe gelegenen Exjugoslawien der Krieg tobte und man in Wien diskutierte, ob der österreichische Nationalfeiertag mit rollenden Panzern auf der Ringstraße gefeiert werden solle.

Die Aufnahmen der Militärparade verleihen dem Film einen engagierten Grundton, ohne ihn zum politischen Pamphlet zu stempeln. Die herausragende Qualität von Nordrand zeigt sich aber vor allem in der Leichtigkeit, mit der die Regisseurin der düsteren Alltagsrealität auch lichte Momente abgewinnt.

In einer zentralen Szene sehen wir die Frauen im Wartesaal einer Klinik, wo sie beide ein Kind abtreiben. Schweigsam und bedrückt treten sie in der folgenden Einstellung auf die Straße, es setzt leichter Schneefall ein – und spontan bricht Jasmin in einen Freudentanz aus. Es ist das unmittelbare Aufeinandertreffen von Lebenshärte und Lebensfreude, von Ausgelassenheit, Verzweiflung und Überlebensmut, die den von authentischen Schauspielern getragenen Film zum lebendigen Stimmungsbild machen. Als Gegenpol zu den real existierenden Panzern setzt Albert dabei Bilder von großer Symbolkraft: Vogelschwärme am blauen Himmel, Kinder beim Drachenspiel auf der Wiese. Visuelle Atempausen, in denen sich Hoffnung auf Zukunft ankündigt.

Von Nicole Hess, Filmkritikerin und -publizistin, lebt und arbeitet in Zürich