Was am TV-Auftritt von Natascha Kampusch besonders auffiel, ist die unglaubliche Ambivalenz in ihrer Person. Und die abgrundtiefe Zwiespältigkeit, die ihre Geschichte bei den Zuschauern wie auch den Medien an die Oberfläche spülte.

"Beeindruckend" ist auf der einen Seite wohl die meistverwendete Vokabel, wenn man Freunde und Kollegen fragt, wie sie diesen Auftritt empfunden hätten. Viele waren im ersten Moment sprachlos. Auf der anderen Seite wurde über ein Thema schon lange nicht mehr so intensiv diskutiert. Kein Wunder die Meldung, dass 2,7 Millionen Menschen in Österreich vor dem Fernseher saßen. Man muss darüber einfach reden. Es ist, als wäre das Märchen von Hänsel und Gretel Wirklichkeit geworden.

Zwei Seiten

Die zwei Seiten, die Natascha Kampusch zeigte: Auf der einen Seite trat sie so unerwartet klar, reflektiert, stark, sozial sensibel, gebildet, sprachlich souverän vor die Kameras, wie sich das wohl die wenigsten nach Ihrer Flucht aus dem Verlies hätten vorstellen können. Auf der anderen Seite schnürte es einem fast die Kehle zu, wenn man sah, wie sie im TV-Gespräch mit Christoph Feurstein das Papiertaschentuch drückte – als könnte sie dort Halt finden beim Schildern besonders belastender Szenen ihrer Gefangenschaft. Und wie sie, Hilfe suchend, an der Kamera vorbei ihre Betreuer suchte.

Ja, Frau Kampusch ist stark, eine beeindruckende Persönlichkeit, wie das durchgehend kommentiert wird. Nein, sie ist ein äußerst zerbrechliches Wesen, braucht noch viel Zeit und Ruhe.

Ambivalent

War es also richtig, dass diese Auftritte – neben dem ORF auch in den „sozial engagierten“, sprich viel Geld zahlenden Printmedien Krone und NEWS – so unverhüllt schon jetzt stattfanden? War der Teenager Kampusch, der seine Geschichte selbst erzählen wollte, von seinen Experten gut beraten, ein solches Medienpaket zu wählen? Oder handelt es sich nicht trotz allem um eine unerträgliche "Realityshow des Leidens", der Ausbeutung durch die Medien, wie das ein italienischer Senator formulierte? Wenn etwa ein Magazinverlag am Tag danach schon die nächste Geschäftemacherei ankündigt: Natascha Kampusch soll zur „Woman of the Year“ ausgerufen werden – samt TV-Show?

Ja und nein. Auch auf der medialen Seite zeigt sich die Ambivalenz dieser beklemmenden Geschichte, die letztlich voller Rätsel bleibt. Inhaltlich: Wir wissen auch nach den drei ausführlichen Interviews im ORF und in zwei Zeitungen fast nichts von Natascha Kampusch, kennen nur die wenigen Details, die sie preisgegeben hat, wissen nicht genau, wie diese einzuschätzen sind. Authentizität ist ein Begriff, der in diesem Zusammenhang nur schwer festzumachen ist. Das gilt insbesondere dann, wenn Berater ganze „Medienpakete“ schnüren – und damit im Normalfall auch Art und Inhalte einer Geschichte definieren.

Das Positive überwiegt

Keine Frage: Das Gespräch mit anderen, etwas ruhigeren Medien, als Fernsehen und Boulevard es dem Wesen nach sind, hätte vermutlich ganz andere Seiten eröffnet. Dennoch überwiegt das Positive bei Weitem. Der Medienberater Dietmar Ecker hat in Summe sehr gute Arbeit geleistet, ganz im Sinne der Wünsche, des Schutzes und des Vorteils von Frau Kampusch: Nach diesem TV-Interview wird es der hetzenden Medienmeute aus der ganzen Welt sehr schwer fallen, Geschichten etwa von einer „Sexsklavin“ zu drucken wie ein britisches Massenblatt.

Respekt verdient der ORF und seine „Thema“-Redaktion. Das war ein gutes Beispiel für Notwendigkeit und Sinn eines seriösen öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Nicht ein aufgeblasener „Starjournalist“ wurde aufgeboten, sondern mit Herrn Feurstein ein sensibler, im Fall kundiger und zurückhaltender Interviewer. In den Printmedien ist das weniger gelungen: Aber selbst dort konnte nichts die berührenden Sätze von Natascha Kampusch stören. Im Zentrum steht der unbeugsame Wille nach Freiheit und nach Wissen. Sie hat die Standards ihrer Auftritte gesetzt. (Thomas Mayer, DER STANDARD Printausgabe, 08.09.2006)