"Kinder, wie die Zeit vergeht! Ist es wirklich schon so spät?" - Viennale-Direktor Hans Hurch

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Den ganzen Sommer über hatte sich das heimische Feuilleton praktisch geschlossen in einer Art geistigen Urlaubsstimmung befunden. 26-mal Anna Netrebko, 12-mal Bayreuth, 22 Mozartopern, 1 SS-Outing, 2 Robbie-Williams-Konzerte. Kinder, wie die Zeit vergeht! Vier Wochen vor der Nationalratswahl meldet sich zumindest der Standard wieder aus den geistigen Hitzeferien zurück. In einer Analyse von Thomas Trenkler kommt der aktuelle Stand heimischer Kulturpolitik vor der Wahl zur Sprache. Und was danach sein könnte.

Was sich bei Trenkler "Analyse" nennt, ist richtigerweise nichts anderes als die Beschreibung eines nahezu vollständigen Mangels an kulturpolitischem Diskurs, an lebendigem Widerstreit der Ideen, an inhaltlichen Strategien für eine zukünftige Kulturpolitik. Also das, was man gemeinhin eine "Agenda" nennt.

Kulturpolitik

Den Grünen ist es in den vergangenen Wochen ansatzweise gelungen, Kulturpolitik zu thematisieren, selbst wenn vieles seltsam inhaltsleer und unkonkret blieb. Die "verstärkte Förderung von Kulturinitiativen", wie Wolfgang Zinggl sie anspricht, ist eine alte Idee von Rudolf Scholten, und das von Zinggl favorisierte "Programmkino am Großvenediger" klingt ein wenig nach Franz Moraks "Theatergruppe von Oberzeiring". Und zehn Millionen mehr für die heimische Filmförderung ist eine schöne Idee, aber eben nur eine halbe.

Mischung aus Vorzimmer und Provinz

Warum hat man nicht den Mut zu sagen, wofür, und so Stellung zu beziehen im aktuellen Konflikt zwischen den heimischen Produzenten um die zukünftige Ausrichtung des österreichischen Films? Auch das ist Kulturpolitik. Und die Idee "weg von der Kulissen- und Festivalkultur" ist ebenso nicht schlecht. Franz Morak hat das Budget für die Wiener Festwochen gestrichen, wollte die halbe Belegschaft der Salzburger Festspiele vom Untersberg stürzen, hat versucht, die Diagonale zu kappen - und dafür viel Geld in diversen Seebühnen versenkt.

Wie die Kulturpolitik der Volkspartei aussieht, hatten wir ein paar Jahre lang Zeit zu erleben. Eine ressentimentgeladene, langweilige, der eigenen Klientel verpflichtete und kleingeistige Mischung aus Vorzimmer und Provinz. Der Spuk ist bald vorbei, aber sie machen bis zum letzten Augenblick Politik.

Kunstabteilungen

Wie anders ist die in Thomas Trenklers "Analyse" beschriebene Bewerbung von Helmut Wohnout für die Leitung der Kunstsektion zu verstehen? Wenige Tage vor der Wahl versucht der Bürochef von Franz Morak, jener Mann also, der über Jahre mit seiner Willkür und seinem Machtgehabe die heimische Kunstszene entzweit hat, sich als oberster Beamter alle Kunstabteilungen zu installieren. Das nenne ich eine schöne Kontinuität.

Austausch

Das vielleicht abenteuerlichste Bild bietet in diesen Wochen und Monaten vor der Wahl die Sozialdemokratie. In einer Art von kulturpolitischem Geheimbund namens "Change 06" bringen sich so genannte Player in Stellung. Es findet so gut wie keine öffentliche Diskussion statt, kaum ein Austausch mit Beteiligten aus Kunst und Kultur, keine Präsentation von Ideen und möglichen Strategien. Ansätze dazu verschwinden ebenso schnell wie erste Positionspapiere und Entwürfe.

Es fehlen Mut, Witz, Selbstvertrauen, eine kulturpolitische Agenda zu erstellen, Verbündete und Komplizen zu suchen, die kulturelle Hegemonie für sich zu reklamieren und zumindest für diesen gesellschaftlichen Teilbereich Perspektiven zu skizzieren.

Namedropping

Wir werden euch den Kulturminister zurückgeben - sagen jene, die ihn abgeschafft haben. Wir verteidigen die Freiheit der Kunst - sagen die, die noch vor Kurzem zynisch die Zensur einer Kunstaktion verlangt haben. Wir wollen einen freien, unabhängigen ORF - sagen die, die ihn gerade neu verteilen. Und wie immer, wenn es an Ideen und Inhalten mangelt, beginnt das heitere Personenraten. Namedropping als letzter Ausweg einer Kulturpolitik, die keinen Begriff von sich hat.

Personalisierung für eine nicht existierende Sache. Es ist wie ein Virus. Die kleine Macht vor Augen wartet man ab, bringt sich in Stellung. Ein paar Wochen noch. Ein paar Tage. Kinder, wie die Zeit vergeht! Ist es wirklich schon zu spät? (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2./3.9.2006)