Verstrickt in Formen des Sich-Entziehens: Kim Schnitzer als spröde jugendliche Heldin Maggy in Henner Wincklers konzentrierter Milieustudie "Lucy".

Foto: Stadtkino
Dies wird dadurch kompliziert, dass die Heldin lieber noch ein Teenager bleiben will.


Wien – Maggy heißt die Hauptfigur von Lucy. Maggy (Kim Schnitzer) ist achtzehn und außerdem schon Mutter, Lucy ist ihr Kind. Vom jugendlichen Vater des Babys hat Maggy sich getrennt, ein guter Freund, der sich eigentlich ein bisschen mehr erhofft, macht ab und zu den Babysitter.

Dann trifft Maggy Gordon (Gordon Schmidt), und der lässt sich auf ein Kleinfamilienleben ein. Die erste Waschmaschine wird gekauft. Dass sie Wochen später noch nicht angeschlossen ist, ist nur ein Indiz dafür, dass das tradierte Bild vom kleinen Glück, an dem sich Maggy und Gordon orientieren wollen, in ihrer Realität nicht greifen kann.

Henner Wincklers zweiter Spielfilm – Klassenfahrt (2002) war sein Debüt – erzählt, wie so ein Leben zwischen naiven Ansprüchen und konkretem Alltag samt Obsorgepflicht und Broterwerb aussehen kann. Einfach ist es nicht, aber auch nicht über die Maßen dramatisch. Der Hauptkonflikt besteht darin, dass Maggy mit ihrem Teenagerleben noch nicht abgeschlossen hat. Die Freundinnen gehen noch zur Schule oder in die Lehre, abends trifft man sich in einer Discothek. Maggy erschwindelt sich kleine Freiräume. Sie kümmert sich liebevoll um ihr Kind, aber wenn sie sich nicht dauernd darum kümmern müsste, dann wäre ihr das merklich lieber.

Keine Perspektive?

Maggys größtes Problem ist vielleicht, dass alle sie einmal gern fürsorglich in den Arm nehmen, aber keiner hilft, eine längerfristige Perspektive zu entwickeln. Eine der vielen Stärken dieses schönen, klaren Films ist es, dass er solche Schlussfolgerungen nur nahe legt, kein Urteil fällt. Sein primärer Zugang verläuft über Beobachtungen, die österreichische Kamerafrau Christine A. Maier hat sie gemessen ins Bild gesetzt.

Maggy steht dabei im Zentrum. Aber die Innen- und Außenräume (das Kinderzimmer, das sie bei ihrer Mutter noch bewohnt, Gordons Einzimmerappartement, die Wohnanlagen im Ostteil Berlins) spielen mit. Und so wenig sich seine Protagonistin ihrem Umfeld mitteilt – ihre charakteristische Haltung ist eine des Sich-Entziehens –, so wenig glaubt der Film daran, dass sich über den Blick auf sie auch gleich ihr Innenleben erschließen könnte.

Damit macht er sich auch angreifbar: Der Regisseur Dominik Graf (Der rote Kakadu) erhob kürzlich den Vorwurf, die jüngere Generation von Autorenfilmern hätte den "kreativen Umgang mit Sprache" verabschiedet und ihre Figuren würden stattdessen immer "verstockter". Wenn sich daraus eine neue Formelhaftigkeit ergibt, dann kann man diesem Einwand durchaus etwas abgewinnen. Wenn sich diese Spracharmut jedoch wie im Fall von Lucy stimmig in einen Milieu- und Figurenentwurf einfügt, dann klingt er schnell nach Ressentiment.

Lucy ist jedenfalls sehr wohl im Kontext eines sich neu profilierenden deutschen Autorenfilms zu positionieren, der zuletzt bei der diesjährigen Berlinale auf sich aufmerksam machte: Neben Wincklers Film wurden Valeska Grisebachs Sehnsucht (demnächst bei der Viennale) und Ulrich Köhlers Montag kommen die Fenster gezeigt und unter dem Label "Neue Berliner Schule" (mit Verweis auf Kollegen wie Christian Petzold oder Angela Schanelec) diskutiert.

Damit gemeint sind Arbeiten, die ihre Geschichten im Alltag, in deutscher Gegenwart finden (so lässt sich Lucy auch als ein Gegenentwurf sehen zu all den spekulativ aufbereiteten Elendsgeschichten über Teenage-Moms, die deutsche Nachmittags-Talk-Shows oder Reportagemagazine erzählen). Diese werden jedoch nicht in Dogma-Style-artiger Unmittelbarkeit (und Melodramatik) ins Kino überführt. Sondern sorgfältig rekonstruiert und in genau abgewägter formaler Klarheit visualisiert. Im präzisen Blick auf Konkretes erschließt sich dann ein größerer sozialer Zusammenhang.

Das heimische Kinopublikum entdeckt dieses Nachbar-Kino abseits von Festivals noch eher zögerlich. Christian Petzold hat mit Die innere Sicherheit und Gespenster bereits eine kleine Bresche geschlagen. Es ist zu wünschen, dass Lucy und in der Folge auch verwandte Arbeiten dieses Interesse stetig vergrößern. (Isabella Reicher / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29.8.2006)