Christine Nöstlinger: "... und wenn das 'Großereignis' vorbei ist, werden vielleicht ein paar Menschen merken, dass es nötig gewesen wäre, sie vor sich selbst zu schützen."

Foto: Christian Fischer
Schmal sei der Grat zwischen "öffentlichem Interesse" und Voyeurismus, schrieb vergangenen Freitag Daniel Glattauer zum Thema "Natascha Kampusch". Bloß ist halt dieser "schmale Grat" mit freiem Auge kaum noch zu erkennen, weil "öffentliches Interesse" und Voyeurismus fast deckungsgleich geworden sind. Als "öffentliches Interesse" gilt nämlich bereits alles, was Leser, Seher und Hörer interessiert, und deren Interesse scheint von keiner Schamgrenze mehr gehemmt und gezügelt. Man meint, ein Recht darauf zu haben, über "öffentliche Personen" - egal ob sie sich freiwillig dazu gemacht haben oder unfreiwillig dazu gemacht wurden - alles, einfach wirklich alles erfahren zu dürfen.

Dass dem so ist, ist nicht sehr verwunderlich. Wir Medien-User haben schließlich ein langes diesbezügliches Training hinter uns, indem man uns zizerlweise den Respekt vor der Privatsphäre "öffentlicher Personen" so weit abgewöhnt hat, dass wir nur noch selten merken: Das hat mich aber wirklich nichts anzugehen. Uns geht schlicht und einfach alles etwas an!

Früher war die voyeuristische Lust der Menschen wesentlich bescheidener als heute, zu ihrer Befriedigung reichten die getuschelten Probleme aus der Nachbarschaft. Bei der Bassena, an der Straßenecke, im Wirtshaus, wohl auch im feinen Salon, erfuhr man alles über die Nachbarn, was einen wirklich nichts angeht, aber brennend interessiert.

Diese Sorte von Umfeld-Voyeurismus ist out. Die Bassenas gibt es nicht mehr, die Greißler auch nicht, Straßenecken sind kein Tratsch-Standplatz mehr, Nachbarschaftskontakte sind rar, wir wissen von einander fast nichts, können uns also auch nicht an dem delektieren, was rundum an Unerhörtem, Erstaunlichem oder gar Skandalösem passiert. Daher brauchen wir Ersatz, und den liefern uns die Printmedien und das Fernsehen. Und die liefern, da ihr Angebot freudig angenommen wird, im Interesse ihrer Auflagen und Einschaltquoten immer mehr und immer detaillierter, all das, was uns wirklich nichts angeht. Und passiert dann etwas Sensationelles, Schockierendes, für ein Normalhirn Unvorstellbares, steigert sich nicht nur die Lust aufs Alles-wissen-Wollen, sondern auch der medialen Dienstleister Drang, diese Lust zu bedienen und zu zeigen, dass man der Konkurrenz überlegen ist.

Da textete der Chefredakteur einer Tageszeitung, die sich für eine Qualitätszeitung hält, doch glatt "Warten Sie nicht, bis sie es woanders lesen können" und verweist hernach stolz darauf, dass sein Blatt bereits eine ganze Seite über das "Großereignis" , nämlich die Befreiung von Natascha Kampusch, brachte, während es zu diesem Zeitpunkt der Konkurrenz bloß 21 Zeilen auf Seite 13 wert gewesen sei.

Sogar der ansonsten seriöse Hörfunk verliert die Kontrolle über sich und stellt im "Mittagsjournal" Mutmaßungen über Sexualkontakte des Opfers zum Täter an. Und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen darf eine bildhübsche Polizistin, die einige Mühe hat, ihre Dialektgedanken hochsprachlich zu verbalisieren, emsig ausplaudern, was ihr Frau Kampusch anvertraut hat.

Seit geraumer Zeit reicht es ja auch nicht mehr, uns über da Tun und Lassen "öffentlicher Personen" zu informieren, sie sollen uns auch ihre Gedanken und Gefühle kundtun. Also fragt der ORF-Reporter den Vater der Entführten: "Was haben Sie gefühlt, wie sie erfahren haben, dass ihre Tochter lebt?" Und der Mann antwortet : "A Waunsinn!" Womit er allerdings nicht die Qualität der Frage gemeint hat. Ein halbes Dutzend Anrainer darf dann ebenfalls ihre Gefühle mit "A Waunsinn" kommentieren, und weil die Sendezeit noch reicht und die Mutter des Entführers anscheinend nicht bereit gewesen ist, über den Sohn zu reden, filmt der Kameramann halt ihr Gemeindebau-Briefkastel, und wir dürfen - weiß auf rot - ihren Familiennamen anglotzen.

Das alles lassen die Sendungsverantwortlichen im "Interesse der Öffentlichkeit" ohne schamrot zu werden durchgehen, und es steht zu fürchten, dass es bloß eine kleine Minderheit der Seher irritiert, während die Mehrheit auf "Fortsetzung folgt" wartet und unzulässige Indiskretion mit gutherziger Anteilnahme verwechselt.

Darauf zu hoffen, dass der unappetitliche Medienrummel bald ein Ende haben werde, ist leider nicht. Wenn Natascha Kampusch demnächst ihr "Versteck" verlassen und versuchen muss, sich im Leben wieder zurechtzufinden, wird es wohl noch grauslicher werden. Da kommen dann nämlich viel Geld für "Exclusiv-Interviews" und allerhand nicht aufgearbeitete Konflikte einer Patchworkfamilie ins Spiel, und moralfreie Journalisten können sich emsig daran bedienen.

Und hinterher, wenn das "Großereignis" wirklich nichts mehr hergibt und von den Medien - wie man so nett sagt - "gegessen" ist, werden ein paar Menschen merken, dass sie schamlos benutzt wurden und es nötig gewesen wäre, sie vor sich selbst zu schützen. Aber eine derartige Schutz-Instanz gibt es halt leider nicht. (Christine Nöstlinger*/DER STANDARD-Printausgabe, 28.08.2006)