Bild nicht mehr verfügbar.

Gestresste Mäuse neigen zur Vergesslichkeit

Foto: Standard/Corbis/William Gottlieb
Noch vor 50 Jahren war das Wort "Stress" nahezu unbekannt. Der Begriff, der ursprünglich aus der Materialüberprüfung stammt und dort die Verzerrung von Metallen beschreibt, wurde 1949 vom Mediziner Hans Seyle in seinen Theorien über das "Allgemeine Adaptionssyndrom" verwendet. Eine folgenreiche Entscheidung: Denn die Frage "Ist deine Homöostase aus dem Gleichgewicht?" hätte sicher niemals das Zeug zur Popularität gehabt wie "Bist du im Stress?". Mittlerweile hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Stress und dessen Auswirkungen zu einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts erklärt. Untersuchungen deuten darauf hin, dass in westlichen Industrieländern bis zu 60 Prozent der Arbeitstage durch Stress verloren gehen.

Überlebensstrategie

Ohne Stress aber würde der Mensch nicht überleben. "Stress ist ein genetisch mitbedingtes, natürliches Phänomen, das sich im Laufe der Evolution entwickelt hat, um effektiv auf Anforderungen der Umwelt zu reagieren", erklärt Anton Leitner, Professor im Zentrum für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie an der Donau-Universität Krems. "Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass maßvoller Stress eine belebende Wirkung auf zielgerichtete Aktivitäten entfaltet und zu qualitativ besseren Ergebnissen führt."

Körperliche Reaktionen

Herzrasen, feuchte Hände oder Anspannung sind die auffälligsten unter hunderten physiologischen Veränderungen, der "Stressantwort", mit der unser Organismus auf alles reagiert, was das Gehirn als Herausforderung oder Bedrohung einstuft: Der Geist ist durch die Ausschüttung von Stresshormonen und der Aktivierung des sympathischen Nervensystem hellwach, der Körper bereit zum Handeln. Ist die Situation bewältigt, wird man mit Zufriedenheit und Entspannung belohnt.

Krankmachender Stress

Kritisch wird es, wenn die körpereigene Stress-Software Probleme nicht mehr lösen kann. Eine chronisch unkontrollierte Stressreaktion kann eine Reihe von Erkrankungen nach sich ziehen, bei denen die Hormonachsen von Adrenalin und Kortisol die Hauptrolle spielen. Fest steht, dass chronisch erhöhte Kortisolwerte verhindern, dass die Stressreaktion wieder auf Normalbetrieb gedrosselt wird. Je nach Schwachstelle trifft es den Verdauungstrakt, das Immunsystem, den Bewegungsapparat, das Herz-Kreislauf-System oder die Psyche. Die chronische Aufruhr der Stresshormone nagt an den Knochen bis zur Osteoporose und nährt den Rettungsring um die Taille, weil Fette und Glukose vermehrt für Krisenzeiten gespeichert werden.

Störung im System

Zusätzlich arbeiten die Insulin produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse bis zur Erschöpfung, wodurch die Entstehung von Diabetes Typ II begünstigt wird. Ein Anstieg von Blutdruck und Blutfett fördert Arteriosklerose und Blutgerinnung und erhöht so das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall. Ebenso sprechen Verstopfung und Durchfall für ein Ungleichgewicht des vegetativen Nervensystems, das mit einem dichten Netz auch die Darmwände durchzieht. Der Reizdarm, der sich in heftigen Schmerzattacken und wechselnden Stuhlqualitäten äußern kann, hat wahrscheinlich hier seinen Ursprung. Nerven und Gehirn erweisen sich als extrem störanfällig: "Ein Dauereinfluss der Stresshormone auf das Zentralnervensystem führt allmählich zur Einschränkung der Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten des Menschen", erklärt Luger. "Er ist bis in körperliche Prozesse hinein immer weniger in der Lage, sich selbst zu steuern. Der Stress entwickelt sozusagen ein hirnphysiologisches Eigenleben."

Stress fördert Vergesslichkeit

Dass Stress nicht nur Ängste und Depressionen verursachen kann, sondern auch vergesslich macht, haben Forscher des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München an Mäusen gezeigt. Durch einen gentechnischen Eingriff fiel im Gehirn der Mäuse die Stressregulation aus, was die Nager extrem vergesslich machte: Die Forscher füllten ein Becken mit Wasser und stellten eine Plattform auf. Normale Mäuse erinnerten sich nach einigen Trainingsrunden daran, wo die Plattform war und schwammen sofort hin. Anders die Stress-Mäuse: Auch nach vielen Übungsrunden fanden sie die Plattform nur zufällig.

Übrigens: Auch bei Ausdauersportlern ist durch die ständige körperliche Belastung der Kortisolspiegel im Gehirn höher als normal. Bei Gedächtnistests schnitten vor allem ältere Läufer deutlich schlechter ab als gleichaltrige Vergleichspersonen. (DER STANDARD, Printausgabe, Andrea Fallent, 28.8.2006)