Mathilde (Louisa Pili) und ihre Mutter (Sandrine Bonnaire)

Foto: Filmladen

Wien - Aus der Vogelperspektive wird der Route eines roten Wagens durch den städtischen Verkehr in umgrenzendes Land gefolgt. Eine Mädchenstimme verdoppelt das Bild, in dem sie die einzelnen Etappen des Weges wiedergibt. Was anfangs wie der reine Zeitvertreib eines Kindes anmutet, entpuppt sich kurze Zeit später als bewusste Erinnerungsübung: Die neunjährige Mathilde wird sich nächtens aus der Wohnung schleichen, um das Ziel diesmal zu Fuß aufzusuchen. Das Altenheim nämlich, in dem ihr Großvater Paul (Claude Rich) lebt.

"Der Hals der Giraffe / Le cou de la girafe", der Debütfilm des Franzosen Safy Nebbou, beschreibt eine familiäre Entdeckungsreise. Mathilde hat in alten Briefen gestöbert und dabei herausgefunden, dass ihre totgeglaubte Großmutter noch lebt. Weil ihre Mutter Hélène (Sandrine Bonnaire) für ihr Anliegen kaum Verständnis aufbringen würde, beschließt sie, auf eigene Faust das Rätsel um diese nahe Verwandte zu lösen. Der gutmütige Paul, ohnehin unzufrieden in seinem neuen Domizil, scheint dafür der passende Gefährte.

Aus dem Zusammenspiel zwischen dem aufgeweckten Mädchen und seinem Begleiter, der zunächst unwillig, dann aber mit wachsender Neugierde in seinen alten Heimatort Biarritz zurückkehrt, bezieht der Film seinen Reiz. Die Interessenslagen der beiden sind denkbar verschieden. Mathilde will unbedingt herausfinden, warum er vor dreißig Jahren mit Tochter seine Frau verließ und jede Kommunikation abbrach. Er hingegen möchte nur schweigen. Das Familiengeheimnis verdeckt schließlich die größte Niederlage seines Lebens.

Die Konfrontation mit der Vergangenheit löst Safy Nebbou über eine Reihe von Begehungen auf. So wird das Buchgeschäft, das dem Film seinen Namen gibt, zu einem Erinnerungsraum, weil Paul hier früher mit Mathildes Großmutter öfters zusammensaß. Dafür erweist sich die Vergangenheit in der Vorstellung als eine trügerische: Der ehemals beste Freund, der die Familiengeschichte nachhaltig mitbestimmte, hat ein vollkommen anderes Leben hinter sich, als Paul vermutet.

Die Reise bewirkt dahingehend Korrekturen in lang gehegten Auffassungen. Fragen von Schuld und Verantwortung müssen mit einem Mal neu gestellt werden. Mit der Anreise von Hélène erweitert sich der Film kurzfristig zur familiären Zerreißprobe. Nebbou hält die melodramatische Flamme jedoch bis zuletzt klein, (fast eine Spur zu) verhalten steuert er ein überraschendes Ende an, das wiederum neue Wege eröffnet. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24.8.2006)