Pharmig-Chef Jan Oliver Huber meint, das Medikamenten-Erstattungssystem verhindert, dass neue Medikamente schnell allgemein zugänglich werden.

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Wien - Das seit gut eineinhalb Jahren gültige Zulassungs- und Erstattungssystem für rezeptpflichtige Medikamente wird als nicht EU-kompatibel angesehen. Da seit einem Mahnschreiben der EU-Kommission Ende des Vorjahres keine Revision vorgenommen wurde, könnte Österreich ein Vertragsverletzungsverfahren durch Brüssel drohen, schätzt Jan Oliver Huber, Generalsekretär der Pharmig, der Interessenvertretung der österreichischen Pharmaindustrie.

Rote Box

Kern der Kommissionskritik ist die "rote Box". Bei neu auf den Markt kommenden Medikamenten sieht die EU-Transparenzrichtlinie nämlich vor, dass innerhalb von 90 Tagen über die Erstattung zu entscheiden ist. Ob die Arznei also in die grüne oder die gelbe Box fällt. In Österreich jedoch, weiß Huber, dauert die Entscheidung für diese meist innovativen Präparate durchschnittlich 285, ja bis zu 570 Tage.

Vom zuständigen Gesundheitsministerium heißt es dazu, dass man im Juli zusammen mit dem Hauptverband in Brüssel gewesen sei und die österreichische Position dargelegt habe. Jetzt warte man auf die Reaktion Brüssels.

Vorwurf an die Kommission

Ein weiterer schriftlicher Vorwurf der Kommission: Die Entscheidung, ob ein Arzneimittel in das Erstattungssystem fällt oder von der Liste gestrichen wird, unterliegt keiner "auf objektiven und überprüfbaren Kriterien beruhender Begründung", so das Schreiben. Huber meint dazu, dass das System weit gehend nicht auf medizinischen, sondern auf bürokratisch-ökonomischen Kriterien", beruht, also dem Spargedanken mehr frönt als gesundheitlichen Überlegungen. Als Beweis dafür führt er an, dass es mit dem Boxensystem auch zum "gläsernen Arzt" gekommen sei. Dieser sei dazu verpflichtet, in den Regeln des Boxensystems zu verschreiben. "Wenn ein Arzt zu viele Medikamente verordnet, können Sanktionen gesetzt werden. Er muss Strafe zahlen oder kann seinen Kassenvertrag verlieren." Das System sei also nicht darauf ausgerichtet, innovative und deshalb teurere Medikamente zu verschreiben.

Kostenexplosion

Deshalb kann Pharma-Lobbyist Huber die Aussage von Franz Bittner, Obmann der Wiener Gebietskrankenkasse, nicht nachvollziehen. Dieser hatte in der Donnerstag-Ausgabe von der Standard vor einer Kostenexplosion bei Arzneien gewarnt. Nach Berechnung des Hauptverbandes kam es bei den Medikamentenausgaben österreichweit 2005 zu einer Zunahme von 1,6 Prozent (auf 2,5 Mrd. Euro), was europaweit sehr niedrig sei und auch auf die explizite Gesundheitspolitik zurückzuführen ist, billige Generika (Nachahmerpräparate von Medikamenten, deren Patentschutz abgelaufen ist) zu verschreiben. Die von Bittner angesprochenen hohen Zunahmen im ersten Halbjahr 2006 führt Huber darauf zurück, dass die Unruhen rund um die Einführung des Boxensystems im Jahr 2005 etwa dazu geführt haben, dass weniger chefarztpflichtige Medikamente verschreiben wurden, ganz einfach, weil sich die Ärzte mit dem neuen System nicht recht ausgekannt haben. Außerdem: "In den Zahlen von Bittner sind Rezeptgebühr und Mehrwertsteuer reingerechnet. Das kann ich mir nur mit dem Wahlkampf erklären".

Grundsätzlich aber werde es natürlich zu einer Zunahme beim Arzneimittelverbrauch kommen, der in Österreich mit durchschnittlich 22,11 Packungen (2004) unter dem EU-15-Schnitt (23,74 Packungen) liege. Auch, weil die Gesellschaft altert.

Neue Vertriebsformen

Wenig kann die Interessenplattform neuen Vertriebsformen für den Medikamentenhandel abgewinnen, wie sie derzeit im Ausland zu beobachten sind. So ist es diese Woche in Deutschland zu einer ersten Apothekenfiliale der niederländischen Versandapotheke DocMorris gekommen. Der Drogeriemarktbetreiber DM versucht auch in Österreich schon des Längeren, die Zulassung für gewisse rezeptfreie Mittel zu bekommen. Huber sieht dabei keine Notwendigkeit für eine Änderung und plädiert für Zurückhaltung. Mit 1176 Apotheken und 980 Hausapotheken bei Ärzten fahre man gut.

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Wissen

Seit 1. Jänner 2005 existiert in Österreich ein "Boxensystem", das Zulassung und Erstattung von Medikamenten regelt:

Rote Box: In diese fallen die neu auf den Markt kommenden Arzneimittel, die in das allgemeine Erstattungssystem noch nicht aufgenommen worden sind. Eine Verschreibung muss vom Chefarzt bewilligt werden.

Gelbe Box: In diese fallen sowohl Präparate mit Chefarztbewilligung als auch ohne. Die Verschreibung Letzterer bedarf einer zusätzlichen Dokumentation durch den verschreibenden Arzt.

Grüne Box: Die Mehrheit der rezeptpflich-tigen Medikamente, auch Generika.

No Box Arzneien, für die die Krankenkassen nicht zahlen. (Johanna Ruzicka, DER STANDARD, Print-Ausgabe,