Der deutsche Journalist und Schriftsteller Henryk Broder schreibt für das deutsche Nachrichten­magazin "Der Spiegel" sowie für die Berliner Tageszeitung "Der Tagesspiegel".

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Es ist eine Frage, die jedes Mal virulent wird, wenn im Nahen Osten ein neuer Konflikt entbrennt: Wo endet Israelkritik und wo beginnen antisemitische Klischees? Im Gespräch mit derStandard.at erklärt der deutsche Publizist Henryk M. Broder , wo er die Grenzen zieht. Zugleich warnt er davor, den Konflikt zwischen Israel und der Schiiten-Miliz Hisbollah zu unterschätzen: Es gehe nicht "um ein paar entführte Soldaten", sondern es sei "der Beginn einer Offensive, die iranische Präsident schon vor langer Zeit versprochen hat", nämlich "eine 'World without Zionism'". Das Gespräch führte Sonja Fercher .

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derStandard.at: Eines der immer wiederkehrenden Themen bei dem aktuellen Konflikt ist die Frage der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Wie beurteilen Sie das Agieren Israels unter diesem Gesichtspunkt?

Henryk M. Broder: Was in Europa nicht gesehen wird ist, dass Israel nicht gegen ein paar Freischärler kämpft, sondern inzwischen eine Front mit dem Iran hat. Irgendwie weigern sich die Europäer dieses einzusehen. Ich lese immer wieder "Nur wegen zweier entführter Soldaten..." Es geht nicht um zwei entführte Soldaten, es ist der Beginn einer Offensive, die der iranische Präsident schon vor langer Zeit versprochen hat, als er seine Kampagne "A World without Zionism" startete. Genau das ist es, was er erreichen will.

Er ist von vielen zu einem Irren erklärt worden, bedauerlicherweise anfangs auch von mir. Er ist aber kein Irrer, sondern hat ein sehr klares strategisches Konzept - und er weiß auch, an welcher Stelle er die Europäer erwischen kann. Was er heute betreibt ist sozusagen die Vollendung dessen, was die Nazis nicht vollenden konnten.

Deswegen reagieren die Europäer auch so verhalten: Weil wenn es - Gott behüte! - zu einem zweiten Holocaust im Nahen Osten käme (im Konjunktiv!), würde der erste Holocaust, der auf das Konto der Europäer geht, im Abgrund der Geschichte verschwinden. Das wäre ein enormes Labsaal für das geplagte europäische Gewissen, denn die Europäer wären nicht mehr allein schuld an der Ausrottung der Juden.

Die Israelis haben das kapiert, aber die Europäer wollen es nicht kapieren und können es vielleicht auch nicht.

derStandard.at: Das klingt nach Weltverschwörung...

Broder: Das ist keine Weltverschwörung, eine Weltverschwörung findet im Geheimen statt. Es ist ein klarer Plan von Ahmadinejad, und er wiederholt das ja auch immer wieder.

derStandard.at: Meinen Sie, dass die Hisbollah auf Anweisung des Iran agiert?

Broder: Ich weiß es nicht, mir gegenüber hat sich Herr Nasrallah noch nicht erklärt, deshalb kann ich es Ihnen nicht sagen. Aber es sieht so aus und alle Logik spricht dafür. Die Hisbollah wird ihre Gelder schon nicht von der Heilsarmee bezogen haben, um diesen ganzen Apparat aufbauen zu können.

Viel erstaunlicher ist, dass die Israelis das entweder nicht mitbekommen haben oder nicht mitbekommen wollten. Ich persönlich tippe auf eine Art von "power of denial", auch auf der israelischen Seite. Die letzten Male, als ich in Israel war und durch Tel Aviv ging oder in der Provinz war, habe ich mich immer gefragt, ob dieses Land überhaupt in der Lage ist, einen Konflikt zu überstehen. In Israel hat es eine enorm positive Entwicklung gegeben hin zum Hedonismus, zum guten Leben. Wenn Sie sich die Menschen in den Cafés ansehen, können sie sich gar nicht vorstellen, dass sich dieses Land überhaupt für einen Konflikt mobilisieren lässt.

Ich habe vor kurzem in Tel Aviv auf der Straße eine wunderbare Szene gesehen: Zwei Soldaten - ich musste zwei Mal hinkucken - zwei männliche Soldaten in Uniform gingen händchenhaltend über die Straße, also offenbar ein schwules Liebespaar in der Armee. Und der einzige, der sich nach ihnen umschaute und staunte, war ich. Das sagt schon etwas aus über den Zustand der Gesellschaft und ich fürchte, die sind auf einen großen Konflikt nicht mehr eingestellt. Diese Gesellschaft ist schon woanders, was eigentlich positiv ist, aber nicht, wenn es zum Krieg kommt.

derStandard.at: Gibt es eine gewisse Enttäuschung darüber, dass sich Israel zwar aus dem Südlibanon und dem Gaza-Streifen zurückgezogen hat, aber dennoch weiterhin Raketen auf das Land abgeschossen werden?

Broder: Das ist der klare Beweis dafür, was in Israel eigentlich alle wissen und was ich den blöden Europäern seit ungefähr 20 Jahren zu erklären versuche: Die Frage der Besatzung ist ein Problem, diese hätte man längst hätte lösen müssen.

Aber es geht nicht um die Besatzung, der Konflikt würde genauso bestehen - genauso drei Mal unterstrichen -, wenn Israel nur aus der Tel Aviver Strandpromenade bestehen würde. Das würde die Wut und den Zorn der Fundamentalisten nicht mindern - ich kann jetzt nicht der Araber sagen, weil die meisten Araber haben sich mit der Existenz Israels abgefunden.

Es geht aber nicht um die Besatzung, sondern um die Existenz Israels. Ich war vor ein paar Tagen auf der Hisbollah-Website und da ist von Hisbollah-Angriffen auf "settlements in occupied palestine" die Rede, und zwar auf Haifa und Akko. Also wenn Haifa und Akko "occupied palestine" sind, was sollen die Israelis dann noch machen außer alles aufgeben.

derStandard.at: Ein anderes Thema in diesem Zusammenhang sind die Kräfteverhältnisse, wonach sich folgendes Bild zu ergeben scheint: Israel geht mit Bombardements, die zahllose Todesopfer fordern, gegen Raketenbeschüsse vor, die nur wenige Opfer fordern. Wie sehen Sie das?

Broder: Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit halte ich für vollkommen richtig, die ist weder antiisraelisch noch antisemitisch. Nur dabei wird übersehen, dass es nicht Feuerwerkskörper sind, die von der Hamas oder der Hisbollah abgeschossen werden, sondern richtige Raketen, die auch Menschenleben kosten und vor allem - was für Israel entscheidend ist - ein Drittel des Landes vollkommen lahm legen. Das kann sich ein Land nicht leisten, dass ein Drittel seiner Bevölkerung nicht zur Arbeit oder zur Schule gehen kann. Die Hamas und die Hisbollah können sich das mit Leichtigkeit leisten.

Die Frage der Abwehr ist eine berechtigte Frage, nur Israels Stärke und Israels Kraft beruht auf dem Abschreckungspotential. Wenn Israel nicht vielfach überlegen wäre, würde es gar nicht mehr existieren. Wenn die Araber die Waffen aus der Hand legen würden, wäre Frieden. Wenn Israel die Waffen aus der Hand legen würde, gäbe es kein Israel mehr. Das ist ein entscheidender Unterschied.

Insofern halte ich die Reaktion Israels möglicherweise für überzogen, das mag schon sein. Ich sehe auch mit Entsetzen, was mit den Zivilisten im Libanon passiert, das kann niemanden kalt lassen. Aber ich fürchte, Israel hat keine andere Option.

derStandard.at: Navid Kermani begründet die schärfere Kritik an Israel in einem Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" damit, dass der Westen auf Israel Einfluss hat, nicht aber auf die Hisbollah oder die Hamas. Was sagen sie dazu?

Broder: Es ist natürlich so, dass man auf jemanden, zu dem man eine Beziehung hat, mehr Einfluss ausüben will als auf andere. Aber was bedeutet das in der Praxis? Das bedeutet in der Praxis, dass jemand, der sich nicht um Regeln schert und sich um keinen Rat kümmert, praktisch einen Freifahrtschein bekommt und machen kann was er will. Das geht nicht.

Sie sehen das zum Beispiel daran, dass die deutsche Friedensbewegung zur Zeit für das Recht des Iran auf Atomwaffen demonstriert. Während sie dafür sind, Atomkraftwerke in Europa stillzulegen, ist es für den Iran geradezu ein Grundrecht, das man dem Iran nicht verweigern kann...

Kernani hat im Ansatz schon recht, aber in der Konsequenz bedeutet das, dass jemand, der sich zumindest ansatzweise an Regeln hält, schon verloren hat gegenüber Leuten, die gar keine Regeln kennen.

In der Frankfurter Rundschau war neulich ein sehr guter Text, in dem stand: "Israel verletzt das Völkerrecht, die Hisbollah kennt es überhaupt nicht." Das ist glaube ich eine ganz gute Zusammenfassung der Situation: Israel verletzt das Völkerrecht, wahrscheinlich stimmt das, nur handelt es sich hier um einen asymmetrischen Konflikt. Das Völkerrecht taugt nur, soweit es sich um konventionelle Auseinandersetzungen handelt.

Im ZDF fragte Marietta Slomka (Moderatorin der Nachrichtensendung "Heute Nacht", Anm.) kürzlich: "Wie kommt es, dass wir immer nur Israelis sehen? Wir haben noch keine Hisbollah-Leute gesehen." Und es fiel mir auf, dass sie tatsächlich Recht hatte. Man sieht immer kämpfende Israelis, nicht aber die Hisbollah. Die stecken irgendwo in ihren Unterkünften, sie haben den ganzen Südlibanon ja in eine gigantische Bunkeranlage verwandelt. Die Israelis ziehen über sie hinweg und dann tauchen sie irgendwo aus dem Hinterhalt heraus.

Es gibt noch einen zweiten Unterschied: Wenn in Israel einen Bombe runtergeht, sehen Sie Aufnahmen aus der Ferne, Sie sehen zugedeckte Leichen. Aber Sie sehen niemanden, der seine Toten oder Angehörigen in die Kamera hält. Genau das sehen Sie aber, wenn im Libanon Menschen verletzt oder getötet werden. Es gibt also einen völlig anderen Umgang mit der Optik und es ist vollkommen klar, auf welcher Seite dann die Sympathien liegen.

derStandard.at: Könnten Sie aus dem aktuellen Konflikt ein Beispiel nennen, um aufzuzeigen, wo die Grenze zwischen Antisemitismus und legitimer Israel-Kritik liegen?

Broder: Das Titelblatt vom neuen "Stern". Sie sehen da einen betenden Soldaten, umrahmt von einigen Bildchen: Eine Kanone, die gerade abgefeuert wird, Frauen bei der Armee. Darunter steht: "Israel, was das Land so aggressiv macht." Ich hätte eigentlich mit einem anderen Titelblatt gerechnet, nämlich mit dem Gesicht von Nasrallah und der Unterschrift darunter: "Warum Nasrallah so bösartig ist".

Aber das ließe sich nicht verkaufen. "Israel und was das Land so aggressiv macht" allerdings ist eine eindeutige Anknüpfung, eine eindeutige Verbindung zu antisemitischen Klischees: "Der Jud ist schuld." Das ist eindeutig antisemitisch und hat mit Israelkritik nichts mehr zu tun.

Das Irre daran ist - da bin ich ziemlich sicher -, dass die Stern-Leute das nicht mal böse meinen, überhaupt nicht. Europa hätte gerne friedliche Juden, die sich brav anstellen, wenn es zur Deportation geht. Die Tatsache, dass die Juden sich dieses Mal nicht endlösen lassen wollen hingegen, zeugt schon von deren Aggressivität.

derStandard.at: Ein Argument, das immer wieder ins Feld geführt wird, ist: "Die Juden müssten es doch besser wissen".

Broder: Nein, die Europäer müssten es besser wissen. Israel weiß es natürlich besser, Israel weiß, dass Passivität zur Vernichtung führt.

Die Europäer glauben, dass sie aus der Geschichte gelernt haben, die Europäer haben aber nicht aus der Geschichte gerlernt, denn sonst wüssten sie: Man muss gegen das Böse kämpfen und nicht den Kampf als böse verdammen.