Romakinder im Sofioter Stadtviertel Fakulteta. 90 Prozent leben hier von der Sozialhilfe. Eine Familie bekommt umgerechnet 75 Euro im Monat.

Foto: DER STANDARD/Wölfl
370.000 Roma leben offiziell in Bulgarien. Die Menschen in dem Sofioter Viertel Fakulteta im Osten der Stadt haben bisher nicht viel davon gemerkt, dass das Balkanland im Jänner 2007 der EU beitreten soll. Wie europareif ist Bulgarien?

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Sofia - Die Touristin beginnt zu schluchzen. Der Grenzbeamte wird väterlich. Es ist fünf Uhr früh, der Expresszug Istanbul-Sofia steht an der türkisch-bulgarischen Grenze. "Ich will nicht zurück nach Istanbul. Ich wusste nicht, dass ich ein Visum brauche. Ich dachte, Bulgarien gehört zu Europa", sagt die Frau. "Oh, nein, da liegen Sie falsch", sagt der bulgarische Beamte milde.

Das 7,7-Millionen-Einwohner-Land ist weit entfernt von Schengen, befindet sich aber in nächster Nähe zu EU-Europa. Nicht einmal sechs Monate sind es bis zum Beitritt.

In Sofia zittert man vor dem nächsten Fortschrittsbericht der EU im Herbst, fleht um Nachsicht, trotzt aber auch manchen Forderungen. Manchmal treten die Bilder des Westens so scharf gegen die Bilder des Ostens an, dass man in Bulgarien glaubt, einen Teil seiner selbst ausschließen zu müssen, damit man zu Europa kommen kann.

Eine Romasiedlung wurde bereits abgerissen, stattdessen steht nun ein glänzender Billa da. Den Roma wurden "alternative Wohnungen" zugeteilt: ausrangierte Eisenbahnwagons - ohne Wasser, Strom und Kanalzugang. Der Weg ins größte Romaviertel Fakulteta aus dem Sofioter Zentrum ist nicht weit.

Die Plattenbauten werden schäbiger, die Straßenbahn scheint noch stärker zu rattern. Schon hier beginnt das Getto. Nur Roma bleiben bis zur Endstation sitzen. In Fakulteta haben die Straßen zwar Namen, aber keine Asphaltdecke, die Häuser zwar Nummern, sie sind aber nicht zu finden.

Schwarzer Fleck

Ein paar Männer sitzen mit Bier vor einem Bretterverschlag. Eine Frau badet ihre Kinder in einer roten Waschschüssel auf dem Lehmboden. Zwischen den unverputzten Baracken stehen zweistöckige Häuser: Hier lebt eine Elite mit Geld inmitten der Armut.

Fakulteta existiert auf dem Kataster Sofias nicht, obwohl hier 35.000 Menschen leben: 90 Prozent von Sozialunterstützung, 75 Euro pro Familie und Monat. "Einen schwarzen Fleck", nennt es Mihail Georgiev, Vorsitzender der Roma-Organisation Romani Baht, was so viel wie Glück bedeutet.

Der Druck auf die Roma wird absurderweise durch den EU-Beitritt stärker. Denn aus Westeuropa käme die Botschaft an Bulgarien: "Nehmt eure Roma zurück!", sagt Georgiev. Er kritisiert die "Polizeimethoden", etwa in Österreich, von wo aus bulgarische Romakinder zurückgeschickt werden. Weil die EU-Europäer die Roma als Bedrohung sehen, würden sie auch von der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung als potenzielles Beitrittshindernis betrachtet. Im Vorjahr bekam die minderheitenfeindliche Partei Ataka bei den Wahlen acht Prozent.

"Zuvor war die Diskriminierung versteckt, jetzt ist sie offener - in allen Aspekten des Lebens", meint Georgiev. "Aber wir wissen jetzt wenigstens, wer der Feind ist." Immerhin gibt es seit 2004 ein Antidiskriminierungsgesetz. Eine Schule mit hundert Prozent Romakindern wurde bereits erfolgreich geklagt, weil Segregation an sich diskriminierend ist. Romani Baht unterstützt Ausbildungen für Justiz und Polizei. Repräsentiert fühlen sich die Roma aber nicht. Nur etwa hundert Polizeibeamte in Bulgarien gehören der Minderheit an, ein einziger Rom sitzt im Parlament.

Georgiev redet von einer Zeitbombe und vergleicht das Potenzial des Protestverhaltens mit jenem in den französischen Vorstädten. Ein Symptom für den "Separatismus" sei, dass viele Roma keine Steuern und Stromrechnungen bezahlten. "Wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft, das Problem legal zu lösen", sagt er fast drohend.

Soziale Gerechtigkeit

"Es gibt für die Roma keine Politik, die funktioniert", sagt Alexander Stoyanov vom Institut für Demokratieforschung. Wenn man die Roma mehr als andere unterstütze, bekomme man ein Problem mit der sozialen Gerechtigkeit. So wollten die Nachbarn der Roma auch keine Stromrechnungen mehr bezahlen, als sie bemerkten, dass dies ohne Konsequenzen blieb.

In Sofia entschied man sich kürzlich wieder für Verdrängung. Als ein Romaviertel abgerissen werden sollte, intervenierten aber einige Europaparlamentarier. Das Viertel bleibt, bis "alternative Wohnungen" gefunden werden. (Adelheid Wölfl/DER STANDARD, Printausgabe, 08. August 2006)