STANDARD: Sind Politiker besonders anfällig für Alkoholmissbrauch?

Jürgen Leinemann: Politiker arbeiten in einem besonders gefährlichen Beruf. Sie stehen unter erhöhtem Stress, haben immer mit Ängsten zu tun. Damit droht Politikern auch die Gefahr, nach Mitteln der Entlastung zu suchen - Alkohol bietet sich da als gesellschaftliches Hauptangebot an.

STANDARD: Joschka Fischers Aussage Anfang der 1980er-Jahre, der Deutsche Bundestag sei eine "unglaubliche Alkoholikerversammlung" war also nicht überzogen?

Jürgen Leinemann: Das war eine Übertreibung. Ich glaube, die Zahl der Gefährdeten ist bei den Politikern nicht größer als im Rest der Gesellschaft. Wir leisten uns immer noch die Vorstellung, Alkoholismus sei eine Krankheit, die vor allen Dingen auf Parkbänken zu besichtigen ist. Das ist ein großer Irrtum. In Deutschland haben wir jährlich um die 40.000 Tote als Folge von Alkoholmissbrauch. Das ist ein Gebiet, in dem im Grunde jeder gefährdet ist. Deshalb wird zu wenig darüber geredet.

STANDARD: Wie kann ein Politiker, der ja ein öffentliches Amt bekleidet, im Suff funktionieren?

Jürgen Leinemann: Ist man im Suff, funktioniert man nur mit Drogen. Aber es ist natürlich so: Wenn die Krankheitssymptome von Alkoholismus deutlich werden, können Sie im Beruf als Politiker bald nicht mehr arbeiten, gerade in höheren Ämtern nicht. In anderen, nicht so öffentlichen Berufen kann man viel länger durchhalten.

STANDARD: Irgendwann kommt es dann zum Zusammenbruch. Gibt es dafür Ihnen bekannte Fälle im Politikbetrieb?

Jürgen Leinemann: Es gab einige, deren Problem jeder sah, die aber ihre Trinkfestigkeit als Tugend feierten. Anders der Bildungsminister Rainer Ortleb. Der hatte ein Alkoholproblem und brach eines Tages zusammen. Die Kollegen stellten ihn als Schwachmann hin, als einen, der nicht durchgehalten hat. Politiker betrachten ihre ganzen Belastungen immer auch als eine Art Tapferkeitsnachweis. Das Entscheidende bei der Sucht ist: Man sollte nie von den Drogen ausgehen. Sondern von der Person, die auf Drogen zurückgreift. Der Defekt liegt im Menschen und nicht in den Drogen.

STANDARD: In Ihrem Buch "Höhenrausch" beschreiben Sie Politiker, die sich an der Politik berauschen, weil ihnen der Bezug zur Wirklichkeit fehlt. Auf die Droge Alkohol bezogen hieße das: Politiker trinken nicht, weil sie so viel arbeiten, sondern . . .

Jürgen Leinemann: . . . weil sie nicht mehr wissen, wofür sie arbeiten. Simpel ausgedrückt: Es muss einen Sinn geben in ihrem Leben. In dem Moment, in dem sie ihr Politikerdasein nur als Karriere betrachten, sind sie schon gefährdet. Wenn sie ein Weltbild haben, etwa ein christliches oder humanistisches, dienen sie einer größeren Sache. Das gibt Sicherheit und kann helfen, nicht abzurutschen in diesen Automatismus: etwas zu tun als Selbstzweck, damit keine Fragen entstehen, keine Zweifel, keine Ängste, keine Leere. Und in diese Leere schütte ich Alkohol rein zwecks Betäubung. Wobei es gerade in der Politik andere Möglichkeiten gibt, sich besser zu fühlen als mit Alkohol: TV-Interviews, Wahlerfolge oder Termine können auch Drogen sein.

STANDARD: Wie sehr gehört in der Berliner Republik der Suff dazu?

Jürgen Leinemann: Ich hab den Eindruck: Im beruflichen Alltag wird in der Politik weniger getrunken als früher. Wenigstens während der Dienstzeit.

STANDARD: Woran liegt das?

Jürgen Leinemann: Vielleicht hat sich herumgesprochen, dass Alkohol nicht mehr so "in" ist, genauso wenig wie Rauchen. Was nicht ausschließt, dass man nach Feierabend Entlastungsräusche pflegt oder dass jemand auch heimlich trinkt.

STANDARD: Klingt nach einer Zeitenwende.

Jürgen Leinemann: Da wäre ich vorsichtig. Es mag auch daran liegen, dass der Bundestag früher älter war. Sehr häufig sind heute die 30- bis 50-Jährigen vertreten, die für drei Legislaturperioden im Bundestag bleiben, dann ihre Altersversorgung sicher haben - und anschließend noch etwas anderes machen. Damit gibt es nicht mehr diese Dauerleute wie damals in Bonn, die noch mit siebzig Abgeordnete waren und sich abends an der Theke trafen. Ich weiß in Berlin keinen Ort, wo Politiker-Trinkexzesse stattfinden. Vielleicht wird hier aber auch nur individueller gesoffen.

STANDARD: Trotzdem stechen Politiker nach wie vor bei Schützenfesten Bier an. Eine Symbolik, die nicht abzuschütteln ist?

Jürgen Leinemann: Ja, und das wird auch so bleiben. Die Leute wollen von Politikern ja sehr widersprüchliche Dinge: Die sollen so sein wie du und ich, sollen sich nicht zu fein sein, mit dir einen zu trinken. Gleichzeitig wollen dieselben Leute, dass Politiker tausendmal besser sind. Sonst könnte man ja auch selbst Kanzler werden. In dieser Diskrepanz liegt die Falle für Politiker. Sie wollen gewählt werden, müssen sich angenehm machen. Das ist überaus anstrengend. Am besten sind deshalb nach meiner Erfahrung diejenigen dran, die so sind, wie sie sind. Und auch einmal sagen, ich trinke nicht, ich hab meine Gründe. Oder: Ich trinke, weil es mir schmeckt.

STANDARD: Kommt die Alkoholabhängigkeit jener Politiker, von denen man es weiß, im politischen Diskurs zur Sprache?

Jürgen Leinemann: Nein. Das markanteste Merkmal in der politischen Kommunikation ist: Wenn es ernst wird, hört das Sprechen auf. Egal, ob es um politischen Streit geht oder persönliche Krisen.

STANDARD: Die Wirte in der Bundestagskantine schweigen offenbar auch ganz gut.

Jürgen Leinemann: Ja, das muss schon sein. Das ist in Ordnung. Politiker müssen ihren geschützten Raum haben.

STANDARD: Auch wenn es um Alkoholmissbrauch einer Person im öffentlichen Amt geht?

Jürgen Leinemann: Jeder Alkoholiker muss selbst erkennen, dass er ein Problem hat. Die von außen können nur für Klarheit sorgen. Wenn jemand in einer Ministerrunde voll alkoholisiert herumlallt, kann er das einmal, zweimal oder auch dreimal machen. Beim vierten Mal wird er wahrscheinlich nicht mehr eingeladen. Dann muss ihm aber auch jemand sagen: "Das liegt daran, dass du immer besoffen bist." Als Alkoholiker muss man mit den Konsequenzen konfrontiert werden.

STANDARD: Sie selbst sind seit dreißig Jahren trockener Alkoholiker. Sie haben mit Ihrem Bekenntnis gewartet, bis Sie nicht mehr im Tagesgeschäft für den "Spiegel" arbeiteten. Warum?

Jürgen Leinemann: Ich habe aus der Tatsache, dass ich ein Alkoholproblem hatte, kein Geheimnis gemacht. Aber es ist ein Unterschied, ob die anderen es wissen oder ob man selbst damit an die Öffentlichkeit geht. Ich habe damals auch deshalb kein Geheimnis daraus gemacht, weil ich als Anlaufstelle für Gefährdete sichtbar sein wollte. Was funktioniert hat, auch bei manchen Politikern. Die kamen dann und sagten: "Können wir einmal reden." Dennoch ist meine Erfahrung aus dreißig Jahren Selbsthilfegruppen: Bei aller scheinbaren Liberalität und allem Verständnis gilt Alkoholismus bei vielen immer noch eher als ein Makel denn eine Krankheit. Außer man befindet sich in gehobener gesellschaftlicher Position. Dann ist es eine Heldenoper.

STANDARD: Selbst ein alkoholabhängiger Politiker wäre ein Held?

Jürgen Leinemann: Ja, sofern er oder sie es denn geschafft hätte. Und hinterher dazu steht und sagt, ich hatte da ein Problem. Ich kenne einige Abgeordnete im Bundestag, die vor vielen Jahren ein Alkoholproblem hatten und nun Jahrzehnte trocken sind - kaum einer weiß davon. Wenn es jemand geschafft hat, gibt es von der Umgebung großen Respekt, und man ist deren positives Beispiel.

STANDARD: Welche Reaktionen gab es auf Ihr öffentliches Bekenntnis?

Jürgen Leinemann: Viele, die es schon wussten, fanden es prima. Viele hat es aber auch gar nicht weiter interessiert. Manche tun sich mit dem Suchtbegriff schwer. Laut Gerichtsbeschluss ist Sucht ja eine Krankheit. Sie können Sucht aber sehr verschieden definieren: als Kommunikationsstörung, körperliche Krankheit, psychischen Defekt, gesellschaftliches Phänomen, spirituelles Defizit. Alkoholismus verharrt in einem seltsamen Zwitterstatus. Die Kenntnis darüber ist verbreiteter als früher. Gleichwohl ist es noch immer ein Tabuthema. Man möchte darüber nicht sprechen.

STANDARD: Die Welt kommt Ihnen erst besoffen vor, seitdem Sie nicht mehr trinken, schreiben Sie in "Höhenrausch". Was meinen Sie damit?

Jürgen Leinemann: Ich habe gesehen, dass sich nüchtern viele so verhalten, wie ich im Suff immer war: immer der Riese meiner Träume und der Zwerg meiner Ängste. Das andere ist: der selbstzerstörerische Trend, den wir in allem und jedem haben. Selbst wenn ich mir diesen Sommer anschaue, komm ich nicht umhin zu glauben, dass wir ihn uns in dieser Intensität selbst eingebrockt haben. Oder die Alpen, die abbröckeln: Das wird nicht allein an der Natur liegen. Diesen Trend zur Selbstzerstörung, den finde ich besoffen genug. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.7.2006)