Wer bestimmt den Lauf der Geschichte - die strukturelle Macht historischer Entwicklung oder der freie Wille der Menschen? Und weiter: Wo liegt der Schlüssel zur geschichtlichen Erklärung - im momenthaften, dramatischen Ereignis oder in den langfristigen Strukturen von Gesellschaft und Natur? Dies sind große Fragen der Geschichtsphilosophie, über die schon mancher Fachstreit tobte. Die österreichischen Historiker Hannes Leidinger und Verena Moritz haben sie für ein breites Publikum aufgearbeitet - anhand einer anderen Geschichte des Ersten Weltkriegs.

In Fachkreisen bekannt durch fundierte und innovative Studien zur Geschichte des Ersten Weltkrieges und der revolutionären Periode der Nachkriegszeit, betraten sie mit dem Schwarzbuch der Habsburger erstmals populärwissenschaftliches Terrain. Nun haben sie sich vorgenommen, ein interessiertes und fachfremdes Publikum in die "Werkstatt" bzw. das "Abenteuer" Geschichte einzuführen. Fünf Ereignisse des Ersten Weltkriegs, die die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts entscheidend beeinflusst haben, werden unter die ereigniskritische Lupe genommen: Österreichs Ultimatum an Serbien, die Schlacht an der Marne, der Vorabend der Februarrevolution in Petrograd, der Ausbruch des russischen Bürgerkrieges in Sibirien und die Niederschlagung des Matrosenaufstands in Kiel, die den Sturz der deutschen Monarchie einleitete. Um sie geht es - nach einer geschichtsphilosophischen Einleitung - in den fünf kurzweiligen Episodenstudien des Buches. Am Ende steht für Leidinger und Moritz eines fest: "Die 'Momente' sind die eigentlich menschliche Dimension der Historie."

In derartigen Flaschenhälsen der Geschichte haben Intellektuelle wie Stefan Zweig immer wieder nach der Triebkraft historischer Entwicklung gesucht. Dies hat wohl auch damit zu tun, dass diese Momente der Verdichtung und Beschleunigung sich durch eine besondere Dramatik auszeichnen. Da die Historiografie ein narratives Handwerk ist, greift sie dankbar nach solchen Themen, die sich nicht nur spannend erzählen lassen, sondern den Lesern auch das ermächtigende Gefühl geben, Menschen hätten tatsächlich Einfluss auf den Lauf der Dinge. Der Blick auf das Helden- und Schicksalhafte jener Augenblicke, in denen Geschichte von willensstarken Einzelnen scheinbar "gemacht" wird, wurde andererseits vor allem von linken Historikern zu Recht kritisiert, weil er die Sicht auf entscheidende ökonomische Machtverhältnisse verwehrt.

Während der vergangenen hundert Jahre haben Historiker und Philosophen darüber gestritten, ob die wesentlichen Ursachen für die Veränderungen der menschlichen Gesellschaften in langfristigen Strukturen zu suchen seien oder in der Kontingenz aller einzelnen Augenblicke und der in ihnen enthaltenen Entscheidungsmöglichkeiten. Die Schule der longue durée betont die gewachsenen Regeln klimatischer, geografischer und allgemeiner ökonomischer Gegebenheiten als Determinanten der Geschichte. Das strukturalistische und poststrukturalistische Denken haben uns gelehrt, dass die Welt, wie wir sie wahrnehmen und verstehen können, trotz all ihrer Vielgestaltigkeit einer aus dem Zusammenhang der Einzelphänomene sich ergebenden Ordnung gehorcht. Und die anhaltende Konjunktur jener Historiker, die weniger in den Ereignissen als in den Diskursen der Menschen den Schlüssel zur Bedeutung der Geschichte suchen, verweist ebenfalls auf die Sprache und das Denken als machtvolle strukturelle Grundlagen des Handelns.

Welche Rolle kommt nun in einem solchen Universum dem Willen des Einzelnen zu? Moritz und Leidinger stellen sich ausdrücklich in die Tradition Stefan Zweigs und seiner Sternstunden der Menschheit, wenn sie den bereits tausendfach analysierten Ersten Weltkrieg nach jenen Schlüsselmomenten durchkämmen, in denen aufgestautes historisches Veränderungspotenzial durch die Handlungen Einzelner entfesselt oder in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde. Diese Menschen waren sich der möglichen Tragweite ihrer Rolle nicht unbedingt bewusst. Dem österreichischen Diplomaten Alexander Hoyos etwa, der für das k.u.k. Außenamt im Juli 1914 die Unterstützung der Berliner Verbündeten für das Ultimatum an Serbien einholte, billigen die Autoren zu, ihm sei nicht klar gewesen, welche Rolle er damit in der Auslösung eines Krieges unbekannter Ausmaße und dem damit verbundenen Untergang seiner eigenen Welt spielte. Auch der zaristische Unteroffizier Timofei Kirpitschnikow hatte nicht die bolschewikische Oktoberrevolution im Sinn, als er sich weigerte, die Arbeiterproteste im Petrograd des Februar bzw. März 1917 blutig niederzuschlagen und so die Meuterei der Petrograder Garnison und den Sturz des Zaren mit auszulösen half.

Allerdings geht es Moritz und Leidinger in ihren facettenreich dokumentierten Miniaturen nicht darum, anhand der mutmaßlichen Weitsicht Einzelner ein voluntaristisches Weltbild zu belegen. Vielmehr versuchen sie, durch die Gegenüberstellung unterschiedlicher, teils noch unausgewerteter Quellen - Memoranden, amtliche Dokumente, Memoiren - die vielseitigen Verstrickungen herauszuarbeiten, die einzelne Menschen in mächtige historische Entwicklungen und gesellschaftliche Kontexte einbinden und ihren Handlungsspielraum bestimmen. Sie beschreiben jene "Knotenpunkte" der Geschichte, in denen sich wichtige politische Konfrontationen derart verdichten, dass es zu entscheidenden Richtungswechseln kommt. Das Konzept mag nicht bei allen Beispielen gleich gut aufgehen. So etwa gerät das Kapitel zum "Wunder an der Marne" ein wenig zu sehr in die schlüpfrige Ecke der "Was wäre gewesen, wenn"-Frage, die der Kriegsgeschichte gelegentlich eigen ist. Trotz solcher Vorbehalte jedoch ist Leidinger und Moritz eine lebendige Einführung in grundsätzliche Fragestellungen der modernen Geschichtswissenschaft geglückt, die nicht nur ein akademisches Publikum, sondern auch Laien zu packen vermag. (Berthold Molden/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29./30. 7. 2006)